Es ist drei Uhr morgens und es geht heiß her im Pacifica Distrikt. Zu heiß für mich. Ich habe den lärmenden Trubel der Hauptstraßen mit ihren Schlägereien und dröhnender Musik hinter mir gelassen und bin ins Halblicht der Hintergassen abgetaucht. Hier ist es dunkler und stiller, beinahe friedlich. Ein paar abgefuckte 'Dorph-Junkies sind mir gefolgt, lassen sich aber eines Besseren belehren, als ich meinen Mantel kurz öffne und sie meinen Frame sehen lasse – und meine Dermalplatten. Die Ronin in ihrem Holster an meinem Rücken muss ich gar nicht erst rausholen, die Dreks hauen ab, so schnell ihre von der Droge zugrunde gerichteten zuckenden Leiber es ihnen erlauben. Ich checke kurz die Lage mit meinem Thermographen. Ein paar Ratten, die im Müll wühlen, ein verkrüppelter Hund schnuppert am anderen Ende der Gasse, das war's. Ich gehe weiter.
Eine flackernde Sodiumlampe wirft ihre gelbe Corona durch die dunstige Luft und lässt die Schatten in der Hintergasse tanzen, durch die ich mir über umgefallene Mülleimer den Weg bahne. Der verkrüppelte Hund sieht mir aufmerksam entgegen, macht aber keine Anstalten, wegzulaufen.
Ein Windhauch trägt den Geruch nach Eisen und Müll und dem frischen Ausstoß eines Herrera zu mir herüber. Selbst die Abgase der Karre für die Reichsten der Reichen riechen besser als bei jedem anderen Gefährt. Ich frage mich einen kurzen Moment, warum so jemand das Risiko eingeht, sich mit dem Schlitten in Pacifica zu zeigen. Dazu gehört entweder ziemliche Dummheit oder jede Menge Eier. Vielleicht eine Mischung aus beidem. Wer auch immer es ist, er wird es bereuen, hierher gekommen zu sein, wenn die Boyz spitzkriegen, dass so ein Auto in ihrem Bezirk herumfährt.
Infrarot zeigt mir etwas, etwa drei Meter vor mir und lenkt mich von meinen Überlegungen ab.
Im Eingang zu einem der Häuser liegt eine Gestalt.
Weißblondes Haar, Augen wie schwarze, leere Teiche in einem Feld aus Schnee. An ihrem Hals entdecke ich die glühende Wunde eines Adrenalin-Boosters, den sie sich hat einsetzen lassen. Vor kurzem erst. Billige, schnelle Arbeit, die aber ihren Zweck voll und ganz erfüllt.
Die Arbeit eines Ripperdocs. Und keines schlechten, wie mir die saubere Versorgung der Wunde zeigt. Kaum einer der Docs kümmert sich großartig um Hygiene, denen sind die Eddies wichtiger.
Ich strecke die Hand aus und berühre mit einem Finger die Zeichen, die über ihrem zur Seite gesunkenen Kopf an die Wand gemalt sind. VOODOO BOYZ. Ich fühle die Feuchtigkeit auf meiner Fingerspitze, schnuppere kurz. Blut. Ihr Blut, so wie es aussieht. Ich muss erst gar nicht die ID aufrufen, um zu wissen, wer sie ist, ich erkenne sie auch so an dem kleinen leuchtenden Vogel, der auf ihrem Handgelenk eintätowiert ist. Die Lichttinte war billig, flackert jetzt, weil die Emitter Fehlfunktionen aufweisen. Einen Moment stehe ich nur da und schaue auf sie herunter.
Nummer sechzehn in halb so vielen Tagen.
So nah wie heute bin ich ihm noch nie gekommen, in den ganzen letzten vier schlaflosen Nächten noch nicht.
Die Situation ist die gleiche wie bei den letzten fünfzehn Malen. AO ist immer Pacifica. Das Opfer ein Mädchen, knappe 20, lebt auf der Straße, wird von keinem vermisst. Durchgebrannte Synapsen, kein Netrunner-Implantate oder sonst welche Ausrüstung, die darauf schließen lässt, dass das Opfer im Netz unterwegs war, als es starb. Das VOODOO-Tag ist nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver, auf das die Kollegen der Mordabteilung nur zu gerne reingefallen sind. Nur zwei der Gründe, warum man uns bei S.IN. viel zu spät eingeschaltet hat.
Aber sobald ich angefangen habe, meine Nase in den Wind zu halten, mich in den Hintergassen umzuschauen, habe ich es gemerkt: Die Combat Zone hat Angst und das nicht zu knapp. Selbst die krankesten Gemüter, zerstört durch Paranoia und alle anderen Arten von Psychosen, scharen sich in Grüppchen zusammen. Keiner ist jemals allein und will es auch nicht sein. Die Boyz streifen durch Pacifica, bis an die Zähne bewaffnet, Cyberware hochgepimpt und voll mit Stims bis unter die Augen, die Finger am Abzug, jederzeit bereit. Hat den Synapsenmörder nicht davon abgehalten, sich immer wieder neue Opfer zu suchen.
Wofür hat sie den Adrenalin-Booster gebraucht?
Ein Geräusch lässt mich aufblicken. Es ist der Hund vom Ende der Gasse. Er steht ein paar Meter vor mir, das verkrüppelte Vorderbein leicht angehoben, und sieht mich aus seltsam cleveren, braunen Augen an. Meine Ware zeigt mir, dass alles an ihm noch biologisch ist. Keine versteckten Bombenimplantate, um den Cop ins Nirwana zu blasen. Keine Spionagesonden, keine Sender.
Ein Hund, mehr nicht.
Er schnüffelt am Haar der Leiche und winselt leise, sieht dann wieder vorwurfsvoll zu mir hoch, als könnte ich das Mädchen wieder zum Leben erwecken und wäre nur zu faul dazu.
»Tut mir leid, Choomba«, sage ich bedauernd. »Nichts zu machen.«
Er winselt wieder, blickt dann zurück zum Ende der Gasse und von da wieder zu mir. Er macht einen zögernden Schritt. Ich aktiviere einen Peiler und klebe ihn an die Wand über der Leiche, dann schicke ich das Signal zurück an S.IN. Der Hund sieht zu mir hoch, macht noch ein paar Schritte.
Ich zucke mit den Schultern. Es ist sowieso an der Zeit, zu verschwinden. Die Kollegen mögen mich gerade nicht besonders, aus den verschiedensten Gründen, und das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit. Vielleicht ist es sogar an der Zeit, ganz aus dem S.IN. zu verschwinden. Meine Ware und meinen Frame mitzunehmen, alle bezahlt und zwar von mir selbst, und mich als Solo zu verdingen. Weniger Regeln, mehr Geld – was will ich mehr? Es hat einmal eine Zeit gegeben, da hat der Schild, der an meinem Gürtel hängt, noch etwas bedeutet. Jetzt ist er nicht mehr als Tech-Schrott, nichtig geworden durch Korruption und Gleichgültigkeit.
Ich folge dem humpelnden Köter mit den cleveren, braunen Augen aus der Gasse und sehe mich um. Eine weitere Hintergasse, völlig in Dunkelheit. Infrarot zeigt mir keine Überraschungen, also gehe ich tiefer hinein. Ein leuchtendes Zeichen an der Wand neben einer Metalltür, beinahe unsichtbar, wenn man nicht danach Ausschau hält, sagt mir, dass hier der Ripperdoc ansässig ist, der dem Mädchen den Adrenalin-Booster verpasst hat. Ich schaue den Hund an, der Hund schaut mich an. Er setzt sich auf seine Hinterbeine und hechelt. Ich öffne die Tür und sehe mich einem dunklen, leeren Gang gegenüber. Steril, schmucklos. Ein komischer Geruch liegt in der Luft, den ich nicht einordnen kann. Vor mir liegt eine Tür, eine weitere steht links von mir offen. Kein Lichtschein dringt daraus hervor. Ich nähere mich vorsichtig, linse um die Ecke. Kisten stapeln sich darin, auf einem Tisch liegen ein paar Werkzeuge, stehen ein paar Flaschen mit irgendwelchen Flüssigkeiten. Ich wende mich der Tür am Ende des Ganges zu und lausche für einen Moment. Nichts. Der Hund drückt sich an mein Bein, die Ohren gespitzt, den Blick auf die Tür gerichtet. Ich fühle sein leises Knurren mehr, als dass ich es höre. Ich drücke die Klinke vorsichtig herunter und schiebe die Tür ein Stückchen auf. Helles Licht quillt zu mir heraus, weißblau, steril wie der Gang hinter mir. Ich höre jemanden eine Melodie summen, das Klappern von Werkzeugen. Der sonderbare Geruch wird stärker. Ich schiebe die Tür ganz auf und betrete den Raum. Er ist etwa fünfzig Quadratmeter groß und voll mit allem möglichen Kram. Eine Tür befindet sich halb verborgen hinter einer medizinischen Anzeigentafel, vor ihr steht ein Kerl mit Halbglatze, der mir den Rücken zudreht und irgendwas poliert. Er hat mich nicht bemerkt. Ich sehe mich weiter um. Eine Bahre, ein Stuhl ...
Ein Labor, zweifellos. Aber keines, wie ein normaler Ripperdoc es betreiben würde, nein, ganz und gar nicht. Erst mal ist es hier viel zu sauber und zu hell. Dann hat kein Ripperdoc, dem ich je begegnet bin, eine Ausrüstung, die mehr als ein paar tausend Eddies wert war. Hier steht Zeug rum, dessen Wert gesamt Pacifica mindestens drei Jahre lang mit CHOOH2 versorgen könnte und die VOODOOS können ganz schön was wegtrinken. Ich stoße unwillkürlich ein leises Pfeifen aus.
Der Mann in seinem fleckenlosen, grellweißen Kittel dreht sich erschrocken um, als er das Geräusch hört.
Ein Gesicht mit einem Vollbart und deutlich erkennbaren cyberoptischen Ergänzungen wendet sich mir schreckerfüllt zu.
Ich kenne das Gesicht. Ich habe es erst vor kurzem in einem Artikel irgendeines Wissenschaftsblogs gesehen, in dem es um Wetware ging. Rick Tassle, CRO von Sybok Enterprises. Was das Logo erklärt, das ich hier überall auf den Geräten und irgendwelchen Kisten sehe. Aber nicht das Blut auf einer Liege oder die Cyberware- Gliedmaßen, die fein säuberlich aufgereiht neben einem Stuhl liegen mit Schnallen für Arme und Beine und einer seltsamen über dicke Kabel und Schläuche angeschlossenen Helmkonstruktion. Etwas an dem Helm und den Körperteilen kommt mir komisch vor, vom offensichtlichen einmal abgesehen.
Und dann begreife ich es.
Die Gliedmaßen sind keine Cyberware, nicht künstlich. Und auch der Helm und der Stuhl sind nicht künstlich, sondern irgendwie ... dazwischen. Zwischen lebendig und technisch. Flüssigkeit pulsiert durch wie organisch wirkende Organe, die gepaart sind mit Plastikbehältern, Röhrchen, Leitungen. Elektrische Impulse schießen leuchtend über eine rosa-grau farbene Oberfläche, die aussieht wie Hirnmasse.
»Was beim Großen Gonk geht hier ab?«, frage ich Rick Tassle, der mich mit bleichem Gesicht ansieht, die Hände ängstlich erhoben, obwohl ich keine Waffe auf ihn richte. Scheint, mein Gesichtsausdruck ist bedrohlich genug.
»Wissen Sie, dass da draußen ein totes Mädchen liegt?«, frage ich ihn. Er nickt nur zitternd.
»Sie haben ihr den Adrenalin-Booster verpasst, oder?« Ich gestikuliere in Richtung des widerwärtigen Stuhls. »Damit Sie Ihre Scheißversuche besser übersteht, ehe Sie ihr die Synapsen durchbrennen? Was ist das hier?«
»Die Zukunft.« Tassle scheint sich ein wenig gefangen zu haben, denn er lässt die Hände wieder sinken. »Der nächste Schritt in der Evolution von Sybok Enterprises.« Er reckt beinahe stolz das Kinn. »Wir werden die ersten sein, die die perfekte Einheit von Bioware und Cyberware produzieren. Das Beste aus beiden Welten sozusagen. Keine Cyberpsychosen mehr, keine Fehlfunktionen.«
»Sparen Sie sich Ihr Werbegesäusel«, knurre ich angeekelt. »Sie haben sechzehn Frauen auf Ihrem Gewissen. Warum ausgerechnet sie? Ein spezieller Fetisch oder steckt was anderes dahinter?«
Er hat den Anstand, ein wenig bedrückt dreinzuschauen. »Es war nicht unsere Absicht ... Sie müssen verstehen, wir haben zuerst ein neues Unterhaltungssystem entwickelt. Eines, das virtuelle Reize mit echten biologischen und reaktiven Komponenten verknüpft.« Er hebt schnell die Hände und redet weiter, als müsste er nichtexistenten Einwänden meinerseits zuvorkommen. »
Play-Vid-Mi wird den nächsten Schritt der Forschung finanzieren, so dass wir alle ...«
Mir geht plötzlich ein Kronleuchter auf. Unterhaltungssystem? Biologische Komponenten? »Sie meinen sowas wie ein interaktives Porno-Gerät?«
Er runzelt die Stirn. »Das ist jetzt sehr vereinfacht ausgedrückt, aber ja. So etwas in der Art. Aber wir haben bereits den nächsten Schritt initiiert. Alle Menschen werden etwas davon haben. Cyberpsychosen werden endlich ein Ding der Vergangenheit sein. Die Entwicklung der Technik ist übrigens rechtlich abgeklärt. Da gibt es garnichts zu beanstanden.«
Ich sehe mich um. »Deshalb müssen Sie das auch hier in irgendeinem Hintergassen-Ripperdoc Labor in Pacifica machen statt in ihrem Hochglanz-Palast? Mit Mädchen, die so arm sind, dass sie für ein paar Eddies und eine warme Mahlzeit alles tun würden?« Ich schüttle den Kopf. »Sie haben sechzehn Frauen getötet, um eine Pornomaschine zu bauen?«, frage ich fassungslos.
»Nein!« Wieder hebt er die Hände. »Sie verstehen nicht. Es ist der erste Versuch, biologische und Cybertechnik zu einem neuen Erlebnis zu machen. Der erste Schritt hin zu einer perfekten Verbindung, so dass wir in unseren nächsten Entwicklungen ...«
»Sie reden zu viel, Tassle«, sagt eine neue Stimme plötzlich.
Ein dumpfer, kurzer Laut.
Rick Tassle glotzt mich an, den Blick stier und plötzlich seltsam glanzlos. Etwas Rotes erscheint auf seinem tausend Eddie teuren Hemd, breitet sich aus wie eine feuchtglänzende Blume, mitten auf seiner Brust. Dann knicken ihm die Beine weg und er fällt in Zeitlupe zur Seite nach unten. Hinter ihm steht Harlan Johnstone, der COB von Sybok Enterprises höchstpersönlich. Das erklärt den frischen Ausstoß des teuren Oberklassen-Vehikels, den ich bei der Leiche gerochen habe. Wer außer einem MegaCorp-Boss würde in Pacifica mit einem Herrera rumfahren? Ist er ohne seine Leibgarde hier?
»Er hat schon immer gern und zu viel geredet.«
In seiner rechten Hand hält er eine brandneue Militech M-10AF Lexington, matt lackiert mit silberfarbenen Einsätzen. Der Lauf zeigt auf mich, ein leises Klicken sagt mir, dass das nächste Geschoss in die Kammer rotiert ist. Ein Geschoss, das meine Dermalplatten ohne Probleme durchschlagen kann, als wären sie aus Käse. Ich habe nicht mal Zeit zu denken:
Oh Scheiße, ganz zu schweigen davon, dass mein bisheriges Leben in einem Kurzfilm an mir vorbeiziehen kann. Wie in Zeitlupe sehe ich den Feuerstoß, bilde mir ein, das Geschoss auf mich zurasen zu sehen. Keine Zeit zum Ausweichen, angreifen, irgendwas ...
Aber einer ist schneller als Johnstone oder ich.
Der Hund kommt wie aus dem Nichts lautlos gesprungen, die Bewegung wegen seines verkrüppelten Vorderbeines ein wenig ungelenk, aber dennoch zielsicher. Er verbeißt sich mit einem Knurren in Johnstones Arm, noch ehe dessen Finger am Abzug zuckt. Der Waffenlauf ruckt zur Seite, etwas pfeift an meinem Ohr vorbei, lässt die Wand hinter mir aufplatzen. Johnstone fällt schreiend zu Boden, schlägt schwach auf den Hund ein, der mir soeben das Leben gerettet hat. Die Waffe landet vor meinen Füßen. Der Hund lässt Johnstone los, bleckt die scharfen Zähne in einem blutverschmierten Grinsen und sieht mit einem zufriedenen Ausdruck in seinem Hundegesicht zu mir hoch. Ich erwidere sein Grinsen und bücke mich nach der Waffe.
Johnstone kriecht jammernd in die Ecke neben Tassles Schreibtisch. Ich sehe auf ihn herunter, Kälte und Abscheu in meinem Magen. Er hält sich den blutenden Arm, das Gesicht vor Wut und Schmerz gleichermaßen verzogen. Das Gewicht der Waffe in meiner Hand fordert eine Entscheidung. Ich ...
»Chandler!«, bellt eine Stimme hinter mir.
Ich kenne die Stimme, besser als mir lieb ist.
Jessup.
Deshalb ist Johnston ohne seine Leibgarde hier, er hat ja den Chef des NCPD bei sich. Acht Jahre an Erniedrigung, Ungerechtigkeit und unbezahlten Überstunden lassen meine Innereien zu einem Knoten aus Abscheu werden. Ich lasse die Waffe sinken, drehe mich um und mustere die dickbäuchige Entschuldigung für ein menschliches Wesen.
»Hat er Ihre Nummer als direkte Durchwahl, Jessup? Oder waren Sie sowieso gerade wieder mal dabei, ihm am Hintern zu schnüffeln? Haben Sie hiervon gewusst?« Ich weise mit der Waffe um mich herum auf die ganze Cyberware, das Biozeugs, die menschlichen Ersatzteile, das Blut und zu guter Letzt auf Tassles Leiche.
Jessup ist ein kleiner Mann mit bleicher Haut und rötlichem Haar. Auf seiner Oberlippe hat er einen Schnurrbart sprießen lassen, der mehr nach einer dicken, fetten, rötlichen Made aussieht als nach irgendwas anderem. Seine kleinen blauen Schweinsäuglein mustern mich mit ihrer üblichen Verachtung, die teuren Augenimplantate nicht mehr als Show und ein Zeichen seines verzweifelten Versuchs, sich den Mächtigen und Reichen ebenbürtig zu machen, zu denen er so unbedingt zählen will.
»Wenn Sie's genau wissen wollen, Chandler«, sagte er hochmütig, »ist das hier die letzte Phase. Sybok Enterprises nächster Schritt zu der perfekten Kombination von Wet- und Cyberware. Und alles, was wir dafür gebraucht haben, waren ein paar Freiwillige. Wir haben sie bezahlt und nicht zu knapp. Ein paar kamen mit dem System nicht zurecht, sind beim ersten Einsatz durchgebrannt, aber die waren vernachlässigbar. Bald ist der Prototyp serienfähig. Und dann wird Kasse gemacht.« Er reibt sich in einer widerlichen Geste die Hände. Der Hund neben mir knurrt leise. Ich kann die Vibrationen seines Brustkorbs durch den Stoff meiner Hose fühlen, als er sich an mich drückt.
»Seien Sie still, Sie dämlicher Idiot!« Johnstones Stimme klingt durch den Raum wie ein Peitschenschlag.
Jessup zuckt zusammen und sieht mit einem waidwunden Ausdruck in seinem Gesicht zum Chef von Sybok Enterprises zurück. Es fehlt nur noch, dass er sich ängstlich duckt und winselt. Er mag dicht an dicht mit den oberen Zehntausend Stehblues tanzen, aber er wird nie einer von ihnen sein. Egal, wie sehr er sich anstrengt, ihre Klamotten trägt, ihre Art zu sprechen imitiert – er wird niemals etwas anderes sein als ein bissiger Köter, den sie zu ihrem Vorteil einsetzen oder treten, wenn ihnen danach ist. Johnstone sieht ihn mit Verachtung in seinen grauen Augen an. Er hält sich noch immer den Arm.
»Lassen Sie ihn gehen, Jessup. Er hat keine Beweise. Er hat die Waffe in der Hand, mit der Tassle erschossen worden ist. Wenn er sie als Beweismittel einsetzen will, liefert er sich selbst ans Messer. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Ich bin unantastbar. Wir sind unantastbar. Das werden Sie noch merken, Chandler.«
»Sie werden auch noch bekommen, was Sie verdienen, Johnstone«, sage ich. »Vielleicht nicht jetzt und auch nicht nächstes Jahr, aber ich werde dafür sorgen, dass Sie bezahlen für das, was Sie getan haben.«
Der widerliche Kerl mustert mich nur schweigend und kalt. Befriedigt sehe ich, wie sein Blut vom Arm auf den Boden tropft.
»Sie sollten das versorgen lassen.«
»Gehen Sie zurück an Ihren Schreibtisch, Chandler«, knurrt Jessup. Scheint, er hat sich wieder von Johnstones Tritt erholt. »Sie werden sich morgen früh bei mir melden und wir werden darüber reden, wie Sie in Zukunft Ihren Job machen.«
»Nein«, sage ich.
»Nein?« Seine buschigen Augenbrauen wandern nach oben, sein madenartiges Schnurrbärtchen kräuselt sich, als wäre es lebendig.
»Ich kündige«, sage ich. Das Metall des Schilds ist schwer in meiner Hand, als ich es ihm vor die Füße werfe. Ich drehe mich um und gehe weg. Mit jedem Schritt fühle ich mich leichter.
»Wo wollen Sie hin?«, ruft Jessup mir nach. »Wollen Sie's ernsthaft allein versuchen? Keiner wird Ihnen einen Job geben. Sie sind obsolet, Chandler. Ich gebe Ihnen eine Woche, eine einzige Woche, dann werden wir Ihre Leiche in irgendeiner Hintergasse finden. Und glauben Sie nicht, irgendeiner von uns wird sich irgendwie Mühe geben, den Mord an Ihnen aufzuklären.«
»Wär ja auch ganz was Neues.«
Ich gehe am Hund vorbei, der mich aus seinen braunen Augen mustert, als wartete er auf etwas.
»Kommst du?«, frage ich und gehe dann weiter, ohne zurückzusehen. Leises Tapsen hinter mir zeigt mir, dass ich verstanden worden bin.
*
»... ist der COB von Sybok Enterprises, Harlan Johnstone, festgenommen worden. Ihm wird vorgeworfen, illegale Versuche mit einer neuartigen Wetware, dem sogenannten Play-Vid-Mi, unternommen zu haben, die zum Tod von mehr als fünfzehn unschuldigen Frauen führten, deren Leichen im Pacifica Distrikt abgelegt und von der Special Investigations-Abteilung des NCPD fälschlicherweise einem Serientäter zugeschrieben wurden. Johnstone weist jegliche Schuld von sich, gibt jedoch an, dass sein CFO Marc Resdon, der CEO Anton Chubek und der CRO, der als verstorben gemeldete Rick Tassle, von Sybok Enterprises ohne sein Wissen diese Versuche durchgeführt haben könnten. Die weiteren Untersuchungen der NCPD ...«
Ich schalte mein Vid-Verbindung mit einem verächtlichen Schnauben aus und begegne dem Blick des Hundes, der neben meinem alten Sessel auf dem vergilbten und verschlissenen Teppich liegt.
»Man kann sie nicht alle kriegen, was?«, frage ich ihn.
Immerhin hat Lizzie von der Gazette den Artikel mit den Insider-Infos rausgehauen, die ich ihr gegeben habe, und der hat Wellen geschlagen. So hohe Wellen, dass selbst Johnstones Füße nass geworden sind.
Hund schnaubt, als wollte er sagen: »War gute Arbeit.«
»Mit dem Rest beschäftigen wir uns auch noch«, ergänze ich und zünde mir einen Niko-Stick an, bevor ich mir eine Cirrus Nix aufknacke. Das Getränk ist kühl in meiner Kehle, der Rauch des Sticks kitzelt mir angenehm die Nase. Gar kein schlechter Anfang für meinen ersten Tag als Solo.
Ich lächle, lehne mich in meinem alten Sessel zurück und lege die Füße entspannt auf meine Tischplatte. Der Hund legt seine Schnauze auf meinen Oberschenkel und sieht mich aus seinen braunen Augen an.
»Wie willst du heißen, Choomba?«, frage ich ihn leise.
Er stößt ein Schnauben aus, das seine Lefzen anhebt, blinzelt.
»Choo soll es sein? Na, meinetwegen«, sage ich.
Er winselt und einen Augenblick glaube ich, ein hündisches Grinsen in seinem Gesicht zu sehen.
Ein Hund, mehr nicht.
Als ob.