Die Geschichte von Regis' Reise!

+


Ihr könnt nun Regis' Geschichte in voller Länge durchlesen. Wir hoffen, dass sie euch gefällt!
Kapitel 1
Im Krankenhaus stank es nach Tod.

"Du brauchst Blut, Regis."

"Ich brauche Zeit."

"Die sterben doch sowieso."

"Aber nicht durch meine Hand."

Alte Verbände, steifgefroren und mit roten Flecken, knirschten unter ihren Schuhen. Niemand war hier, der sie hätte wegräumen können, und auch niemand mit Feuerholz.

"Ich verstehe nicht, was dich antreibt." Dettlaffs Tonfall klang gereizt.

"Dennoch bitte ich dich, meine Entscheidung zu respektieren."

"Aber deine Sturheit bringt uns beide in Gefahr. Du bist geschwächt. Und hältst uns auf."

"Alle ethischen Bedenken beiseite", fuhr Regis fort, "dein naturgegebenes Verhalten ist doch der Grund, warum wir überhaupt hier sind. Wir haben Aufmerksamkeit erregt. Die Spur ausgesaugter Leichen wird nur dafür sorgen, dass wir noch leichter zu finden sind. Also überlass es für eine Weile mir, uns zu führen."

"Was hast du vor?"

"Wir sollten uns unauffällig verhalten. Uns verkleiden."

"Als Menschen? Das ist ... erniedrigend." Dettlaff bewegte sich unruhig und zischte vor Schmerzen auf, als er die Wunde unter seinem Umhang berührte.

"Sie schwärt", stellte Regis scharfsichtig fest.

"Wie ist das möglich? Ich kann sie nicht schließen. Und als ich versucht habe, mich zu verwandeln, riss sie noch weiter auf. Ich verstehe das nicht, er war doch nur ein Mensch ..."

"Nein. Kein Mensch. Ein Hexer."

Dettlaff warf seinem Gefährten einen Blick zu, der Widerwillen, aber auch Neugier widerspiegelte.

"Das sind Mutanten, aufs Töten getrimmt. Sie gehören zu einer Gilde, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Welt vor Besuchern aus anderen Sphären zu beschützen", erklärte Regis.

"Vor uns ..."

"So ist es. Auch vor uns. Über die Jahrhunderte haben sie einen beachtlichen Wissensschatz über jene zusammengetragen, die sie als ihre Feinde betrachten. Diese Expertise hast du am eigenen Leib erfahren.

Deshalb rate ich zu großer Vorsicht."

Dettlaffs Kiefermuskeln zuckten, während er über die Worte seines Gefährten nachdachte. "Dann tun wir es auf deine Art", sagte er schließlich.

Das Zelttuch raschelte. Der Blick der Vampire heftete sich auf den Zelteingang. Eine Akolythin von Melitele lächelte sie erschöpft an. "Ich bin jetzt für Euch da, meine Herren. Vergebt mir, dass ich Euch so lang habe warten lassen, aber ich bin allein. Die Schwestern sind der Armee nach Wyzima gefolgt."

"Und haben die Verwundeten der Kälte überlassen?" Regis war überrascht. "Wieso die Eile? Der Krieg ist doch vorbei. Die Nilfgaarder wurden bei Brenna besiegt."

Die Adeptin senkte den Blick. "Die Krone schuldet ihnen Geld. Schon seit sechs Monaten. Die Armee drohte mit einer Revolte. Die Soldaten zwangen den Wachtmeister, sie zur Hauptstadt zu bringen, wo sie ihre Bezahlung abholen wollten. Ich meldete mich freiwillig für den Lazarettdienst. Und wer schwört zu dienen, tut es nicht nur bei schönem Wetter und mit vollem Bauch."

"Dieses Krankenhaus ist ohne ausreichende Vorräte verlassen worden."

"Der Herr Wachtmeister hat uns freundlicherweise sein persönliches Zelt überlassen. Dieses hier. Und er hat versprochen, Proviant und Medikamente zu schicken, die er aus eigener Tasche bezahlen wollte. Es gibt also durchaus Erfrischungen. Auch für Euch, wenn Ihr wollt. Möchtet Ihr etwas essen?"

"Danke." Regis lächelte und schürzte die Lippen. "Aber nein, danke. Doch bitte sag mir noch eines: Sind hier aufrichtige Reisende vorbeigekommen? Heutzutage ist es nicht sicher, allein zu reisen. Auf den Straßen treibt sich allerhand Gesindel herum ..."

"Am Morgen kamen drei Soldaten an. Sie nahmen einen der Verwundeten mit – sagten, er sei ihr Kommandant. Dann zogen sie nach Westen. Ich war froh, dass sie ihn mitnahmen. Eine gerettete Seele mehr."

"Danke."

Bald darauf verließen sie das Krankenhaus. Die Straße nach Westen war von zerkratzten Ulmen flankiert.

"Niemand wird ihnen helfen", sagte Dettlaff. "Sie haben sie bereits vergessen. Ich kenne Menschen. Die haben ein kurzes Gedächtnis."

"Das Mädchen ist geblieben", erwiderte Regis.

Über ihnen umkreisten Krähen das Zelt.
Kapitel 2
Es hatte aufgehört zu schneien.

Erskine rieb sich die Augen und starrte voraus auf die Felder von Sodden, die im schummrigen Zwielicht lagen. Er beschloss, dass jetzt ein guter Zeitpunkt zum Anhalten war und gab seinen beiden Begleitern das Signal, die Straße zu verlassen, um in einer Höhle in der Nähe Unterschlupf zu suchen.

Néris warf ihren Rucksack von sich und holte Decken und Proviant hervor. Osyan machte derweil Feuer. Erskine ließ das Schlittenseil los, setzte sich und massierte sich die Hände.

"Ich helfe euch gleich", sagte er.

Néris beäugte den Mann, der auf dem Schlitten lag. "Ruh dich lieber aus, solange du kannst."

„Verdammter Feldwebel", murrte Osyan und hauchte sich auf die frierenden Finger. "Warum muss er nur so ein Fettsack sein? Wäre er leichter, hätten wir die Ina längst überquert."

"Tja, schöner Mist", meinte Néris.

Erskine beugte sich über den bandagierten Feldwebel und lauschte seinem flachen Atem. "Wir sind aufeinander angewiesen", sagte er. "Ich übernehme die erste Wache."

*

Der gestohlene Wein schmeckte nach Ingwer. Erskine verzog das Gesicht, wickelte die Decke fester um sich und musterte seine schlafenden Gefährten. Osyan hätte sein Sohn sein können. Er hatte sich kurz vor der Invasion der Schwarzen zum Armeedienst gemeldet. Gemeinsam hatten sie unter Jan Natalis für Dillingen gekämpft, danach mit König Foltest, um Sodden zu befreien. Néris, eine Condottiere der Freikompanie, behauptete, die Tochter eines Lyrischen Barons zu sein. Erskine war sich ziemlich sicher, dass sie log, denn wäre sie wirklich, wer sie behauptete, wäre sie jetzt wohl kaum halb erfroren mit ihm und den anderen auf dieser irren Reise.

Ah, die Reise. Erskine seufzte und nahm einen großen Schluck vom Wein. Alles hatte mit dem Feldwebel und seiner wilden Geschichte von einer Truhe in einem zertrümmerten Keller angefangen. Gemeinsam hatten sie eine Entscheidung getroffen, und nun gab es kein Zurück.

Das wärmende Feuer rief nach Erskine und lud ihn zum Schlafen ein. Er gähnte, erhob sich und stupste Néris mit der Stiefelspitze an. "Du bist dran", sagte er und übergab ihr die Flasche. Néris rieb sich die Augen, nahm einen Schluck und spuckte in die Flammen. Erskine wollte gerade den Ingwergeschmack erwähnen, als er erkannte, dass die Condottiere die Finsternis hinter ihm anstarrte.

"Keine Angst", ertönte eine Stimme aus den Schatten jenseits des Lagers.

Einen Moment später traten zwei Fremde ins Licht. "Wir sind unbewaffnet", informierte sie der Grauhaarige, dem offenbar die Stimme von eben gehörte.

"Wir wollen nach Dillingen. Schwere Zeiten wie diese verbringt man am besten in der Gesellschaft anderer, findet ihr nicht auch? Besonders, wenn sie dasselbe Ziel haben."

"Woher willst du das wissen?", fragte Osyan, der mit hinterm Rücken verborgenen Dolch am Boden hockte.

"Wir brauchen keine Gesellschaft", ergänzte Néris.

Erskine schwieg. Er war noch dabei, die Lage einzuschätzen. Die Neulinge sahen nicht bedrohlich aus. Zum einen, weil sie in der Tat unbewaffnet zu sein schienen. Außerdem sahen sie irgendwie kränklich aus – oder zumindest schwach. Der Grauhaarige war schrecklich blass und sprach mit sanfter Stimme. Der andere, dunkelhaarig und schweigsam, ging ein wenig vornübergebeugt und hatte die Hand in die Hüfte gestemmt. Vielleicht eine frische Wunde?

Der Grauhaarige ruckte das Kinn in Richtung Schlitten. "Der Mann da wird keine Woche mehr überstehen", stellte er fest. "Zu eurem Glück bin ich Arzt. Ich habe ein Haus in Dillingen. Wenn wir uns beeilen, kann ich ihm vielleicht helfen."

Der Wind rüttelte an den Zweigen und fachte das sterbende Feuer wieder an.

Erskine begriff, dass Néris und Osyan ihm das Antworten überlassen wollten. Er dachte nach. Wenn der Feldwebel starb, ehe sie am Zielort ankamen, wäre alles für die Katz. Ein Knochensäger wäre in der Tat nützlich ...

Er ließ den Schwertgriff los, grunzte und nickte. "Habt ihr auch Namen?"

*

Bei Sonnenaufgang waren sie bereit, weiterzuziehen. Erskine verteilte die Asche mit dem Fuß und musterte dabei die neuen Reisegefährten. Der Grauhaarige, Regis, hatte nicht gelogen. Obwohl er selbst kaum stehen konnte, hatte er geschickt die Verbände des Feldwebels gewechselt und ihm sogar eine Kompresse gelegt. Darüber hinaus hatte Dettlaff überraschend angeboten, den Schlitten zu ziehen.

Sie zogen los. Doch nach wenigen Schritten hielt Dettlaff inne und stöhnte vor Schmerzen auf. Regis stützte ihn. Erskine rückte seinen Rucksack zurecht und holte die beiden ein.

"Ihr seht ziemlich mitgenommen aus", meinte er. "Wer hat euch so zugerichtet?" Die Neuankömmlinge schwiegen. Dettlaff warf einen Blick über die Schulter, so als erwarte er, dass ihm jemand folgt. Erskine drängte ihn nicht weiter. Irgendwie war er sich plötzlich sicher, dass er die Antwort gar nicht wissen wollte.
Kapitel 3
"Eine Abscheulichkeit hat sich in unserem Glockenturm eingenistet, Meister Hexer. Bei Nacht fliegt es über die Stadt, entführt Leute von der Straße und zerrt sie in seinen Unterschlupf, um sie zu verschlingen. Schrecklich ist das! Wie viel wird es kosten, damit du uns von der Plage erlöst?"

"Zweihundert Oren, Ratsherr. Es handelt sich um einen Vampir. Und nicht irgendeinen."

Der Ratsherr war beeindruckt. "Tatsächlich? Du weißt also schon, mit welcher Kreatur wir es hier zu tun haben?"

"Ich habe eine der Leichen untersucht."

Sorensen hielt es für unnötig, diesem Mann zu erklären, dass er die Bestie schon seit langem jagte, und zwar auf Befehl von jemandem, der viel wichtiger war als er. Und dass er Warfurt nur aufgesucht hatte, weil er der Spur bis hierher gefolgt war. Er fand, wenn die Leute bereit waren, für einen Auftrag das Doppelte zu zahlen, gab es keinen Grund, es ihnen auszureden.

Der Ratsherr überlegte und rümpfte die Nase. "Ziemlich teuer."

"Dann versucht es ohne mich."

"Nun, das haben wir natürlich bereits getan. Die Männer der Burgwache sind ganz versessen darauf, etwas zu unternehmen. Aber Eisen wird gegen diese Teufelsbrut nichts ausrichten. Wir wollten den Glockenturm anzünden, um den Bastard zu verjagen, aber ..."

"Es ist nicht richtig!", donnerte der ehrbare Erzvater, der bisher nur schweigend durch das gefärbte Glasfenster auf die dunkle Säule des Tempelturms gestarrt hatte. "Einen heiligen Ort anzuzünden! Dreitausend Oren aus der Kollekte stecken in diesem Glockenturm! Es kann nicht sein, dass wir ihn einfach niederbrennen!"

"Hast du keine Angst", wandte der Ratsherr verärgert ein, "dass dein Geschrei die Bestie anlocken könnte?"

"Wir stehen unter dem Schutz der Psalmen", gab der Priester wütend zurück. "Solange der Gesang erklingt, hat die Hexerei keine Macht."

Die im Hauptschiff versammelten Choristen sangen weiter. Der monotone Singsang verschmolz mit den noblen, von Weihraucharoma durchdrungenen Wänden des Tempels. Aber in diesem Moment ereilte Sorensen eine Erinnerung, die ihn nachdenklich stimmte. "Ehrbarer Vater", sagte er zum Priester und beugte das Haupt, "Glaube und heilige Psalmen sind in der Tat das beste Mittel gegen Vampire. Dürfte ich mir wohl eure Choristen ausborgen? Das Gebet wird die Sinne des Monstrums vernebeln und ihm seine Macht nehmen. Auf diese Weise kann ich mich ihm nähern und den tödlichen Hieb versetzen."

Der Prälat plusterte sich auf wie ein Truthahn und beäugte den Ratsherrn. "Natürlich, mein Sohn. Natürlich."

*

Die Köder hatten ihre Aufgabe erledigt. Der Psalm verwandelte sich schnell in Entsetzensschreie, als der Vampir aus dem schwarzen Himmel stürzte und inmitten der Choristen landete. Ein augenloser Schädel, Fledermausschwingen und pulsierende Venen unter aalglatter Haut. Gharasham-Stamm.

Das Monstrum griff sich den nächstbesten Choristen und versenkte seine Fangzähne in seinem Leib. Mit einem langen, krallenbewährten Fuß hielt er einen zweiten zu Boden gedrückt.

Die Euphorie, die sie beim Blutsaugen verspüren, vernebelt ihre Sinne und macht sie träge. Das ist der beste Moment, um anzugreifen. Sorensen trat aus seinem Versteck hinter einem Steingargoyle hervor, holte aus und plötzlich sauste die Kette durch die Luft. Die Glieder wirbelten um die Gelenke der Kreatur, und die Haut zischte von der Berührung mit dem Silber. Der Gharashami fiel, rollte das Schrägdach des Tempels hinunter, landete auf der gepflasterten Straße und riss eine Lawine aus Schindeln mit sich in die Tiefe. Der Hexer jagte ihm hinterher. Zeit, die Sache zu Ende zu bringen. Er zog sein Silberschwert und schlug auf den Nacken der Kreatur ein, die immer noch mit den Fesseln kämpfte.

Plötzlich entsprang der Blutlache die Silhouette einer Fledermaus. Die Klinge krachte scheppernd aufs Gestein, und die Kette lockerte sich. Von den Fesseln befreit, verwandelte sich der Vampir zurück in eine menschlichere Form, breitete die Flügel aus und hob mit durchdringendem Gekreische ab. Sorensen wich der zornigen Attacke aus, rollte ab und kniete sich hin. Gefederte Arme klickten, als er den Wechselbogen entfaltete. Er zielte. Und schoss. Der gelähmte Vampir kam ins Straucheln, erhob sich mühevoll in die Luft und prallte scheppernd gegen die Messingglocke.

Der Jäger folgte seiner Beute. Er schnappte sich den Liftstrick, den die Maurer dagelassen hatten und schnitt mit dem Schwert das Gegengewicht ab. Der Schwung der fallenden Ziegelsteine riss ihn innerhalb eines Augenblicks hinauf ins Obergeschoss.

Von hier aus konnte er im Mondlicht die Fledermaussilhouette erkennen, die sich in Richtung Westen entfernte. Er fluchte unfein.
Kapitel 4
Der Wind trug den Duft von Kräutern und getrocknetem Fleisch mit sich. Regis hielt an. "Hier sind andere Leute."

Dettlaff nickte schweigend.

Sie waren nun schon seit drei Tagen dem Lauf der Jaruga gefolgt. Ihre menschlichen Gefährten misstrauten ihnen noch immer und mieden sie, wenn sie konnten. Die Vampire hielten sich ein paar Schritte hinter ihnen.

"Du hast uns illustre Gesellschaft verschafft", meinte Dettlaff. "Die Priesterin hat gesagt, sie wären Soldaten. Nur stinken sie nach Angst und Täuschung."

"Es sind Deserteure."

"Woher willst du das wissen?"

"Ich vermute es nur. Der Verwundete ... die Insignien wurden von seinem Mantel entfernt."

"Wir versuchen also unterzutauchen, indem wir uns einer Bande zerlumpter Flüchtlinge anschließen? Wunderbar."

"Du hast leicht reden. Vergib das Klischee, aber unter Menschen zu leben, hat mich gelehrt, dass nichts je einfach ist. Wir wissen weder, wer sie sind, noch, wieso sie davonlaufen. Oder vor wem. Wir wissen überhaupt nichts über sie."

Auf Osyans Signal hin hielten sie an. Er winkte ihnen zu und zeigte auf ein Gehöft in der Nähe. Ein kleines Areal am Waldrand. Ein verwahrloster Wagen stand am Zaun, und aus dem Stall war Gewieher zu hören. Der rauchende Schornstein und die Aussicht auf einen warmen Herd waren zu verlockend. Die Vampire beobachteten ihre Weggefährten, die sich kurz berieten und dann die Straße verließen, um zum Haus zu gehen.

"Stimmt, wir wissen nichts über sie", räumte Dettlaff ein. "Aber ich habe das Gefühl, das wird sich bald ändern."

*

Der Bauer kehrte mit dem Fass zurück. Er stellte es auf den Tisch und fing an, Tonkrüge zu befüllen. Der Geruch nach Bier erfüllte den Raum. "Vergebt mir, aber ich verstehe das nicht ganz", sagte er.

Erskine schluckte und wischte sich den Schaum aus dem Schnurrbart. Er tippte die Lilie auf dem Tisch an. "Nun, ich habe es ja bereits erklärt. Wir gehören zur temerischen Armee und sind in einer Geheimmission unterwegs. Um diesen ... Gefangenen ... zu transportieren, der von den Nilfgaardern ausgelöst wurde. Wir müssen ihn so schnell wie möglich über die Ina schaffen. Deshalb brauchen wir deinen Wagen."

"Und beide Pferde", ergänzte Osyan.

Néris lehnte an der Wand neben der Tür. In der Hand hielt sie die blanke Klinge, mit der sie in den Bodendielen herumstocherte. "Und den Inhalt deiner Speisekammer", fügte sie hinzu.

"Das ist nicht recht. Wie sollen wir ohne den Wagen hier draußen im Winter überleben?"

"Wir?", fragte Osyan. "Wer denn noch?"

Der Bauer beäugte die Tür. Osyan spuckte aus, zückte seinen Dolch und legte ihn auf den Tisch. Das flackernde Kaminfeuer spiegelte sich gespenstisch im blanken Metall.

"Gute Leute, habt Gnade ..."

"Wir sind keine guten Leute. Und es wäre doch schade um dich, wenn du herausfinden müsstest, was genau ich damit meine."

"Osyan ...", warnte Néris.

"Schnauze. Er soll entscheiden."

Dettlaff, der sich bis eben im Schatten aufgehalten hatte, näherte sich und warf einen Beutel auf den Tisch. Münzen klimperten darin. "Mach, was du willst", sagte er. "Ich gehe spazieren."

Die Tür schlug zu, Regis nahm den Beutel in die Hand und trat an die Seite des Bauern. "Meine Gefährten sind Soldaten, keine Diebe", sagte er und sah dabei Osyan in die Augen. "Sie brauchen nur eine Stute, die sie vor den Schlitten spannen können. Und für das Tier wirst du ... angemessen entlohnt."

Erskine öffnete den Mund und suchte verdattert nach Worten.

Der Vampir lächelte und schürzte die Lippen. "Temerische Soldaten wissen natürlich, dass sie dich nicht einfach um deine Habe erleichtern dürfen" fuhr er fort. "Denn täten sie es doch, wüssten sie genau, dass Gerüchte um ihre Geheimmission unter Umständen die falschen Ohren erreichen könnten. Und das ... nun ... das würde sie in große Gefahr bringen."

*

Aine spürte die Zweige unterm Stiefel.

Sie durchsuchte den Schnee, hob den Reisig auf und warf ihn in den Korb. Sie hatte genug gesammelt und beschloss, nach Hause zu gehen.

Entschlossenen Schrittes lief sie los und summte leise ihr Lieblingslied. Am Waldrand angelangt, hielt sie plötzlich inne und machte einen Satz nach hinten. Lange harrte sie hinter einem Baum aus und lugte dann hinter dem Stamm hervor.

Unweit der Hütte hielten sich Fremde auf. Eine Frau zog Ludka an den Zügeln, und die Stute schnaubte unruhig und trat nach ihr. Zwei Männer trugen Säcke und Fässer aus der Speisekammer. Die vierte Person, ein älterer Mann, sprach mit ihrem Vater.

Dann spürte Aine noch jemanden. Jemanden in der Nähe.

"Warte lieber hier", riet eine Stimme hinter ihr. Tief. Bezaubernd.

"Aber mein Vater ..."

Der Fremde legte ihr die Hand auf die Schulter. Kalt und blass. Blutflecken auf der Handfläche. "Ihm wird nichts geschehen. Sie werden bald fort sein. Sieh. Sieh sie dir genau an. Deine Welt, in der nichts einfach ist."

"Ich verstehe nicht."

"Macht nichts."

Das Mädchen schwieg. Sie musterte den Grauhaarigen, der etwas aus der Tasche nahm und es ihrem Vater in die Hand drückte. Gold blitzte auf.

"Sie nehmen nur Ludka mit?", fragte sie nach kurzem Zögern.

"Ja. Mein Freund besitzt die Gabe der Überzeugungskraft."

"Das ist gut."

"Gut? Ihr hattet Glück. Sie wollten euch ausrauben."

Aine drehte sich um und sah dem Fremden in die Augen. "Aber jemand hat auf uns aufgepasst."
Kapitel 5
Die Ina glitzerte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne.

Am Ufer ragten die Festungen Vidort und Carcano auf. Im Krieg niedergebrannt, wurden sie nun von der temerischen Armee nach und nach wiederaufgebaut.

Osyan wies nach Norden.

"Seht, dort“, sagte er. "Das Eis verbindet die Ufer. Lasst uns den Fluss hier überqueren."

Erskine hauchte sich die Finger an. "Das gefällt mir nicht", protestierte er. "Die Eisschicht ist an manchen Stellen dünn und voller Löcher. Außerdem sind die Festungen zu nahe. Wir sollten an der Gabelung von Ina und Trava überqueren. Am besten durch eine abgelegene Furt. Das wäre besser; sicherer für den Feldwebel."

"Wo du gerade von eurem Gefährten sprichst ...", warf Regis ein. "Wenn ihr wirklich sein Bestes wollt, rate ich euch zur Eile. Bittet die Leute in Carcano um Hilfe. Die haben bestimmt Medikamente und Verbandszeug. Aber ich sehe schon, von der Idee seid ihr nicht erbaut."

"So ist es, nicht erbaut", stimmte Erskine zu. "Du nimmst mir die Worte aus dem Mund."

Dettlaff lächelte. "Was ist nur mit euch, temerische Soldaten?", fragte er. "Wieso wollt ihr Euresgleichen nicht um Hilfe bitten?"

"Jetzt hör mal zu, Schlaumeier", sagte Osyan. "Haben wir etwa gefragt, wer ihr seid? Woher ihr kommt? Oder wer euch derart zugerichtet hat, dass ihr wie wandelnde Leichen ausseht?"

Dettlaff schwieg.

"Lasst uns nach Fen Carn weiterziehen", schlug Regis vor. "Dort hatte ich mal ein Sommerhaus. Vielleicht finden wir noch ein paar alte Vorräte."

"Hast du den Verstand verloren, Knochensäger?", hakte Erskine nach. "Wir betreten doch nicht blindlings verfluchten elfischen Boden. Du sagst, der Feldwebel hat nicht mehr viel Zeit? Nun, dann werden wir eben doch die Ina queren, und zwar genau hier. Und dann eilen wir nach Dillingen."

*

Im Schutz finsterer Wolken betraten sie den gefrorenen Fluss. Nur das Krachen des Eises störte die Stille.

Gerade, als es so aussah, als könnten sie sich unbemerkt davonmachen, ertönte hinter ihnen ein dumpfes Geräusch.

Osyan fluchte. "Drei Reiter. Bewaffnete Patrouille."

Die Temerier entdeckten sie sofort. Einer gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte auf die Festung zu, die anderen beiden trabten Richtung Ufer. Sie saßen ab, zogen die Schwerter und rannten aufs Eis. "Halt!", riefen sie. "Halt!"

Die Stute, die den Schlitten zog, schnaubte und gehorchte.

"Beweg dich, blöder Gaul!", rief Erskine und zerrte an den Zügeln. Erfolglos. Wenige Momente später hatten die Temerier sie erreicht – nahe genug, dass sie ihre Gesichter erkennen konnten.

Regis warf Dettlaff einen Blick zu. "Versuchen wir, mit ihnen zu verhandeln."

Osyan spuckte aus und wirbelte seine Schleuder.

Das Geschoss pfiff daraus hervor und prallte gegen den Helm eines der Soldaten. Er sackte stöhnend aufs Eis. Der zweite Soldat griff sich die nächstbeste Person – Néris. Sie balgten sich eine Weile, verloren das Gleichgewicht und stürzten in ein Loch.

"Néris!" Erskine ließ die Zügel fallen und wollte zur Öffnung rennen.

Doch Osyan packte ihn am Arm. "Lass sie!", rief er. "Wir müssen abhauen!"

Aber Regis hatte genug vom Weglaufen. Er sprang ins trübe Wasser, fand die Condottiere, die immer noch mit dem Temerier rang, während beide immer tiefer sanken – Letzterer besonders schnell, weil ihn seine Rüstung nach unten zog. Néris trat um sich und stieß einen Haufen Atemblasen aus. Regis schwamm zu ihr, schnappte sie und versuchte, sie hochzuziehen. Doch er überschätzte die Kraft seines erst kürzlich regenerierten Körpers. Er zog zu heftig und spürte, wie ihm die Schulter aus dem Gelenk glitt. Er biss heftig die Zähne zusammen und versuchte es erneut. Knochen krachten, Schmerz explodierte, und er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

Dann war plötzlich Dettlaff bei ihm.

Er schob Regis beiseite, packte die Condottiere mit einer Hand und den temerischen Soldaten mit der anderen. Geschickt trennte er die beiden Streithähne und schwamm eilig an die Oberfläche.

*

Als die vier endlich das Kiesufer der Ina erreichten, waren Erskine und Osyan längst verschwunden. Ein Alarm erklang in einem der Flussfestungen. Regis versuchte, Néris beim Aufstehen zu helfen, aber sie schubste ihn von sich, rappelte sich auf und rannte so schnell sie konnte Richtung Wald. Er folgte ihr, drehte sich um, um nach Dettlaff zu sehen, der den Soldaten fortzog. Dann sah er nur noch Bäume.

Sie rannten lange durch den Wald, bis sie schließlich erschöpft die Hügel von Fen Carn erreichten. Néris hatte vom finsteren Ruf dieses Orts gehört, aber er war zu müde, um zu protestieren.

Endlich erreichten sie eine Hütte mit einfacher Einrichtung. Im Raum stand ein Tisch voller Flaschen, und an den Wänden hingen getrocknete Kräuter. Ein übler Duft stieg ihr in die Nase.

Regis durchwühlte das Chaos nach trockener Kleidung und begutachtete die Flaschen, während sich seine Gefährtin umzog.

"Ist das dein Sommerhaus?", wollte sie wissen.

"Ja", gab er zurück und rieb sich die schmerzende Schulter. "Gefunden."

Sie gingen nach draußen und setzten sich an den Kamin. Regis fachte das Feuer an. Er wischte Staub und Spinnweben von der Flasche, entkorkte sie und reichte sie Néris.

Sie trank. Der Alkohol brannte ihr im Hals und wärmte sie.

"Oh, ihr Götter ... Was ist das?"

"Alraunentinktur."

"Willst du auch?"

"Nein, danke. Ich lebe abstinent."

"Ein abstinenter Schnapsbrenner, der sich ohne zu zögern in tückische Tiefen stürzt, um Fremden beizustehen. Du bist ein rätselhafter Mann, Regis."

"Nun ... Ich habe einmal einen Zwerg gekannt, der sich selbst einen unverbesserlichen Altruisten nannte. Scheinbar passt diese Einschätzung auch zu mir."

Sie saßen schweigend da. Néris starrte lange auf die tanzenden Schatten im Schnee hinter Regis. Irgendetwas stimmte nicht. Und endlich verstand sie, was es war. Sie versteifte sich und stöhnte auf. "Du hast keinen ... Du bist ein ..."

„Ja, bin ich."

Sie zog sich erschrocken zurück und hielt schützend die Hand vor den Hals.

Regis warf ein paar Scheite ins Feuer. "Entspann dich. Ich sagte doch, ich lebe abstinent. Außerdem, hätte ich dich tot sehen wollen, hätte ich dich wohl kaum gerettet, oder?"

"Dettlaff?"

"Dettlaff auch. Aber es wäre besser, wenn du das für dich behältst."

Das Feuer knisterte. Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts Dettlaff aus den Schatten auf und setzte sich zu ihnen.

"Der Temerier wird es überleben", informierte er die beiden. "Ich habe ihn bis zur Mauer getragen, damit sie ihn finden."

Néris zitterte. Ihre Gedanken rasten. Regis' Kleider kratzten ihr auf der Haut, und die übergroße Hose rutschte ihr immer wieder von der Hüfte. Sie zog sie hoch und schnürte den Gürtel so fest sie konnte.

"Was ist mit dir?", wollte Dettlaff wissen.

Sie zögerte einen Moment. Dann fasste sie einen Entschluss.

Sie nahm noch einen Schluck von der Tinktur und lächelte.

"Nichts", antwortete sie. "Alles in Ordnung."
Kapitel 6
Der Ratsherr rannte atemlos die Turmtreppe hinauf. Man hatte ihn vor dem gewarnt, was er dort oben finden würde, also hielt er sich ein duftendes Taschentuch vor die Nase. Sorensen war bereits dabei, den Bereich zu untersuchen. Leichen in unterschiedlichen Verwesungsstadien lagen im Vampirnest aufgestapelt, doch der Gestank schien den Hexer nicht zu stören.

"Dein Geld wartet bei deinem Pferd, Meister Hexer. Der Erzvater drängt darauf, dass du die Stadt bald verlässt."

Der Jäger zuckte mit den Schultern. Mit den Fingern maß er den Abstand zwischen den Bisswunden, die die Zähne hinterlassen hatten. "Eigenartig. Die Bissspuren weisen auf zwei verschiedene Kiefermuster hin. Der Gharashami hat seine Opfer hergebracht und ihnen die Wirbelsäulen gebrochen, um sie zu lähmen. Wie ein Vogel, der Würmer für seine Küken vorverdaut."

Der Ratsherr runzelte die Stirn. "Was hat das zu bedeuten?"

"Es bedeutet, dass er jemanden gefüttert hat."

*

"Sabrina."

Nichts. Wieder einmal. Der Xenogloss bebte in der Kälte. Sorensen hätte die sprechende Kiste liebend gern in den Fluss geworfen und die Sache hinter sich gebracht. Aber er brauchte noch eine Antwort. Die Neugier gewann die Oberhand, und er versuchte es erneut.

"Sabrina, du blödes Weib."

"Sorensen, Schätzchen. Wie höflich du doch bist", antwortete das Gerät mit metallischer Stimme. Das Pferd stellte erschrocken die Ohren auf und wurde langsamer. Der Hexer gab ihm die Sporen.

"Du hast mich belogen."

"Tatsächlich?"

"Es gibt zwei Vampire. Also wirst du auch das Doppelte bezahlen."

"Deswegen störst du mich? Um zu verhandeln?"

"Ich will, dass du mir sagst, wer dein Flüchtling ist. Und erzähl mir von den Umständen seiner Flucht."

"'Keine Fragen.' Das war unsere Vereinbarung, weißt du noch?"

"Das Risiko hat sich aber erhöht. Ich muss wissen, womit ich es zu tun habe. Sonst kehre ich nach Angren zurück."

Die Stille zog sich in die Länge. Sorensen fing langsam an zu befürchten, dass der Xenogloss wieder einmal den Geist aufgegeben hatte.

"Ich und zwei andere Zauberinnen wurden beauftragt, Schloss Stygga zu vernichten – den Sitz des abtrünnigen Zauberers Vilgefortz von Roggeveen. Wir fanden die Überreste einer Kreatur, die ein Zauber getötet hatte. Wir versuchten, sie wiederzubeleben. Und hatten Erfolg."

"Ihr habt einen Vampir wiederbelebt? Wozu?"

"Um ihn zu befragen. Er hätte wichtige Informationen haben können. In Schloss Stygga hatten epochale Ereignisse stattgefunden, die wir bis heute nicht ganz begreifen."

"Ich bin sicher, er stellte sich als charmanter Gesprächspartner heraus."

"Nicht wirklich. Den Menschen war er als Emiel Regis bekannt. Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei ihm um eine uralte, gebildete Kreatur handelt. Doch nach seinem Erwachen trieb ihn rasender Hunger. Und ehe ich ihn näher befragen konnte, floh er. Ich hatte ihn wohl unterschätzt."

"Oder er hatte Hilfe. Wie gesagt, es gibt zwei Vampire. Sie reisen gemeinsam."

"Bedauerst du unser Abkommen? Oder verhandelst du noch?"

Sorensen ignorierte ihren Kommentar. Hinter der Kurve tauchte ein schäbiges kleines Häuschen auf. Er zügelte sein Pferd und lenkte es Richtung Haus.

"Ich muss los. Ich habe zu tun."

"Guter Junge."

*

"Temerische Plünderer. Gewöhnliche Diebe. Sie wollten uns ausrauben. Der Grauhaarige hat sie aufgehalten. Hat sie beruhigt. Ohne auch nur die Stimme zu heben. Hat nicht zugelassen, dass die anderen die Speisekammer leerräumen. Und für die Stute hat er auch bezahlt."

"Gold ..." Aine senkte den Blick. Das Wort war ihr nur herausgerutscht.

Der Hexer rieb sich die Narbe am Hals. "Zeig's mir."

Der Bauer warf seiner Tochter einen finsteren Blick zu. Der Neuling hatte genügend Waffen dabei, um ein Dutzend Soldaten auszurüsten. Und dann diese Augen. Wie von einer Schlange oder Eidechse. Mit so einem wollte er sich lieber nicht anlegen. Seufzend zog er den Holzschuh aus, nahm mithilfe eines Messers die Sohle ab und holte eine Münze hervor.

Ein geflügelter Löwe mit Menschenkopf, geprägt auf mattem Gold. Auf der Rückseite ein Streitwagen. Sorensen hatte solche Münzen schon einmal gesehen. Auf den Hügeln von Dur Lugal Iddin. Ein wölfisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte schon befürchtet, dass er die Spur verloren hatte.

"Diese Münze ist über dreihundert Jahre alt. Heute findet man sie fast nur noch als Grabbeigabe. Du hast Glück, Hausherr, dass sie kein Interesse an dir hatten."

"Grabräuber, sagst du? Schänder der Toten?"

Sorensen zurrte den Sattelgurt fester, stellte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. "Schlimmer. Das hier war jemand, der sich an die alten Zeiten erinnert."

Der Bauer sah dem fortziehenden Gold hinterher. Er schluckte heftig und wandte sich dann ab, um seine Tochter zu beruhigen, die sich im Schuppen eingeschlossen hatte. Er brachte es nicht übers Herz, ihr böse zu sein.
Kapitel 7
Néris hielt im Wind schützend die Hand vor die Augen und holte zu Regis auf.

"Du meintest doch, du hättest eine Zuflucht in Dillingen. Hier gehst du also immer hin?"

"Ja."

"Wieso?"

"Um mich zu verstecken. Ein Hexer folgt uns. Ein Monsterjäger."

Vor zwei Tagen hatten sie Fen Carn verlassen und waren zur Jaruga zurückgekehrt. Die letzten Wolken trieben vom Himmel und die schneebedeckte Ebene glitzerte in der untergehenden Sonne.

"Ein Hexer?" Ich würde annehmen, dass für Wesen wie euch sogar fünf von denen keine Gefahr wären."

Dettlaff knöpfte seinen Mantel auf, bis seine Hüfte zu sehen war.

"Schau her."

Néris zischte, als sie sich die gaffende Wunde in seiner Seite ansah.

"Vor drei Wochen griff er mich in Warfurt an. Normalerweise würde so etwas über Nacht heilen."

"Die Vampirjagd scheint seine Spezialität zu sein", sagte Regis. "Wir müssen äußerst vorsichtig vorgehen."

"Es wäre vorsichtig gewesen, in Fen Carn zu bleiben. Sein Ruf hätte uns Schutz bieten können ..."

"Aberglaube und ein paar alte Steine reichen nicht", sagte Dettlaff. "Aber es gibt Orte, die geschaffen wurden, um uns Zuflucht zu bieten."

Néris knackte mit den Knöcheln.

"Ich wollte euch um Hilfe bitten. In der Nähe von Dillingen ..."

Als sie Stimmen hörte, unterbrach sie sich. Regis zeigte auf ein Lager zwischen den verblühten Bäumen. Ein paar löchrige Zelte, aus denen Rauch von Lagerfeuern stieg.

"Darüber sprechen wir nachher weiter", sagte er.

*

"Sie haben uns nach dem Krieg aus unserem Zuhause vertrieben und jetzt sitzen sie da immer noch. Soldaten – zur Hölle mit denen!"

Mit versteinerten Zügen sahen sie auf das Flüchtlingslager hinter der Frau, während diese ihre Geschichte erzählte.

"Sie haben überall in unserem Dorf ihre Banner aufgehängt und behandeln es wie einen militärischen Stützpunkt. Ich hab ihnen gesagt: Das hier ist mein Zuhause und da, auf dem Wasser, das ist das Boot, in dem mein Vater und Großvater auf die Jaruga gefahren sind. Aber das war den Soldaten egal. Also hab ich das Kind in die Arme genommen und um Gnade gefleht. Es ist Winter, habe ich gesagt. Es ist kalt. Wir haben Hunger. Ich habe sie angebettelt, uns wenigstens eine Hütte zu überlassen, ein wenig Menschlichkeit zu zeigen."

"Sie haben sich nicht überreden lassen", sagte Dettlaff.

Hinter der Frau lugte ein Kind hervor. Hoffnungsvolle Augen in einem hungrigen Gesicht. Die Frau strich das Haar des Jungen aus seinem Gesicht und rückte seine Kapuze zurecht.

"Sie nannten die Nilfgaarder Eindringlinge", sagte sie. "Verdammte Eindringlinge. Aber jetzt ist der Krieg mit den Schwarzen vorbei und das Land ist angeblich befreit. Aber wir können nicht einmal in unsere eigenen Hütten zurückkehren. Für mich sieht das aus, als hätten wir verloren."

Regis knirschte mit den Zähnen.

"Wartet bis morgen. Kehrt bei Morgengrauen nach Hause zurück."

"Aber die Soldaten ... Wir haben es schon versucht."

"Ja. Jetzt werde ich es versuchen."

*

Sie erreichten das Dorf in der Abenddämmerung. Fünf Hütten, deren Dächer vom Schnee erdrückt wurden, ein einsamer Kai, die im Wind wippenden Masten von Fischerbooten. Aus der größten Hütte erklangen Gelächter und fröhliche Stimmen.

Regis nahm die Tasche von der Schulter und reichte sie Dettlaff.

"Warte hier", sagte er.

Die Tür knarrte, als er sie öffnete und in die stickige Luft voller Pfeifenrauch trat. Die Soldaten am Tisch verstummten.

"Wer bist du?", fragte ein bärtiger Mann mit einer Narbe an der Schläfe.

"Mein Name ist Emiel Regis. Ich bin auf dem Weg nach Dillingen."

Der Soldat lehnte sich vor und stützte sein borstiges Kinn in seine dickliche Hand.

"Bist du allein unterwegs? Ganz schön mutig."

"Oder dumm", warf ein anderer Soldat ein.

"Genau. Oder dumm", sagte der Bärtige. "Du hast dich verlaufen, Emiel Regis. Aber zum Glück für dich führt eine Straße auf die andere Seite der Hügel. Und von da aus musst du nur immer weiter geradeaus gehen."

"Ich weiß."

"Was suchst du dann hier?"

"Ich bin ein paar Leuten begegnet, die ihr aus ihrem Zuhause vertrieben habt. Sogar Kindern wurde ein Obdach verweigert."

Regis schloss die Tür hinter sich und ging zum Tisch hinüber. Die ersten Hände bewegten sich bereits zögerlich zu Schwertgriffen.

"So lauteten unsere Befehle", sagte der Bärtige.

Regis erwiderte seinen Blick und hob die Hand. Die Flaschen auf dem Tisch erzitterten.

"Die Befehle haben sich geändert", sagte er mit rauer Stimme. "Dieser Ort gehört euch nicht. Ihr werdet umgehend nach Vidort aufbrechen. Ihr werdet vergessen, dass ihr jemals hier gewesen und mir begegnet seid."

Die Gesichtszüge des Bärtigen wurden schlaff und ausdruckslos.

"Ja, Herr", flüsterte er.

Als die letzten Soldaten die Hütte verließen, wurde Regis schwarz vor Augen. Er versuchte, sich zur Bank zu retten, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Stattdessen brach er zusammen und schlug dabei mit dem Kopf auf den Stuhl auf.

Als er in der Dunkelheit versank, erinnerte er sich an den Beginn ihrer Reise. Ein Krankenhaus in der Ödnis, das leise Stöhnen der Sterbenden. Der Gestank des Todes.

Die werden eh sterben.

Aber nicht durch mich.

Dettlaff steht neben ihm, seine Hände triefend rot.

Du brauchst Blut, Regis.
Kapitel 8
"Wo ist das Geld, du Hurensohn? Rede endlich!"

"Grr!"

Die Krähen sahen gleichgültig zu, während die Männer ihren Geschäften nachgingen. Der Feldwebel, eben noch bleich wie ein Ertrunkener, bekam wieder etwas Farbe, als Osyan ihn an der Kehle packte und zudrückte.

"Grr!"

Erskine trat auf die Lichtung. Fluchend ließ er das Feuerholz fallen, das er in den Armen hielt. In wenigen Schritten erreichte er den Schlitten, griff nach Osyans Mantel und schleuderte ihn zu Boden.

Der alte Mann, der mittlerweile rot wie eine Tomate war, rang zuckend unter den Felldecken um Atem.

"Willst du ihn umbringen, du Trottel?" Knurrend trat Erskine seinen Kumpanen in die Seite.

"Hast du völlig den Verstand verloren? Warum hast du nicht nach mir gerufen, als er aufgewacht ist?"

Osyan kroch auf den Ellenbogen von Erskines Stiefel davon.

"Ihn umbringen, nein. Wollte ihm nur etwas Angst machen." Ein herablassendes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.

Erskine starrte ihn wütend an. Wenn Osyan es irgendwie herausgefunden hätte, wo genau sich das Versteck befand, hätte er sich sofort den Feldwebel geschnappt und wäre im Wald verschwunden. Er hätte nicht einmal gezögert, bevor er seinen Komplizen in der Kälte zurückgelassen hätte. So wie sie es ja auch mit Néris getan hatten.

"Wenn das noch mal passiert, häng ich dich an den Eiern auf."

"Aufgehängt werdet ihr alle beide", knurrte der Feldwebel. "Deserteure. Verräter!"

Beide lachten auf.

"Warum bist du denn so zu uns, Kommandant? Wir haben dich aus dem Maul des Todes gerettet! Dich versorgt, als du krank warst! Wenn du mich fragst, haben wir ein Fünkchen Dankbarkeit verdient, oder etwa nicht?"

"Der Henker wird euch mit seiner Axt danken."

Erskine blies Luft in seine kalten, steifen Hände und lehnte sich dann an die Seite des Schlittens. Osyan rappelte sich wieder auf und stellte sich auf die andere Seite. Der Feldwebel sah sie finster an und zog dabei seine verschneiten Augenbrauen zusammen. Die Würfel waren bereits gefallen. Es gab keinen Grund mehr zu lügen. Nicht nach Osyans Wutanfall.

"Wo hast du deine Beute versteckt, du alter Gauner?"

"Die gehört der Kompanie. Und sie wird gerecht aufgeteilt."

"Dass ich nicht lache. Das ist deine Diebesbeute – aus Dillingen. Oho, ein Dieb mit Ehre, hm?"

"Erbeutet unter dem Recht der Eroberung. Aus einer Stadt, die wir von den Nilfgaardern zurückgeholt haben. Bist du etwa eine Kriegsjungfer, Erskine? Ist das dein erstes Mal?"

"Nicht das erste Mal. Aber wahrscheinlich das letzte, nachdem wir uns diese Beute geschnappt haben. Ich denke, ich bin lange genug hinter Kriegshörnern her marschiert."

Osyan schürzte die Lippen, zog sein Messer, spuckte auf die Klinge und wischte sie dann am Ärmel ab.

"Warum vergeudest du deine Zeit damit, dich zu rechtfertigen? Sobald er das Messer hier spürt, wird er schon reden."

Erskine zuckte mit den Schultern und fügte nichts als seine Stille Zustimmung hinzu. Er verspürte fast so etwas wie Respekt für den Feldwebel, dessen eiserne Sturheit ihrer Einheit immer wieder zu Erfolg verholfen hatte, und er wollte ihn nicht wie ein tollwütiges Tier behandeln. Also gab er dem alten Mann einen Moment lang Zeit, um noch einmal nachzudenken und sich den Ernst seiner Lage bewusst zu machen.

Osyan verstand davon natürlich nur wenig. Er war letzten Herbst in den Dienst von König Foltest getreten, nachdem die Kaedwen-Kavallerie den Bauernhof seines Vaters geplündert und niedergebrannt hatte. Die Erfahrung hatte Osyan gelehrt, dass "Soldat" einfach nur "ungestrafter Dieb" bedeutete. Deshalb war er der Armee beigetreten.

Die Klinge drang unter die Pelze, das kalte Metall wurde gegen die Haut des Feldwebels gepresst. Auf seinem vernarbten Gesicht wichen Zorn und Bitterkeit Hilflosigkeit. Resigniert antwortete er endlich.

"An der Jaruga, einen Tagesritt östlich von Dillingen, ist ein Sägewerk. Dort sind wir mit Nilfgaardern aneinandergeraten – sie wollten mit Booten über den Fluss fliehen ..."

Erskine und Osyan beugten sich über den verwundeten Mann wie ausgehungerte Aasgeier.
Kapitel 9
Dettlaff setzte Regis an den Tisch. Er sah sich im Raum um und ging dann zur Kellerluke.

"Das war leichtsinnig", sagte er.

"Ich weiß."

"Sag bloß nicht, du brauchst nur Zeit. Du weißt genau, was zu tun ist."

"Ja, weiß ich."

Das Feuer im Kamin war ausgegangen und die Dunkelheit hatte das Innere der verlassenen Hütte erfüllt. Néris setzte sich an den Tisch und nippte an der Alraunentinktur. Regis rieb sich die Schläfe, die von seinem Sturz schmerzte.

"Du sagtest, dass du unsere Hilfe willst."

"Ja."

"Dann habe ich eine Bedingung: keine Geheimnisse mehr. Zeit für die Wahrheit. Die ganze Wahrheit, so kurz und knapp wie möglich. Bitte."

"Die Wahrheit ist langweilig, Regis." Sie seufzte. "Irgendwo in der Nähe von Dillingen gibt es eine Truhe mit Kriegsbeute. Arnault – so heißt der Feldwebel – hat sie dort versteckt, um sie bis zum Kriegsende sicher aufzubewahren. Leider wurde er gegen Ende des Feldzugs im Kampf verwundet. Wir haben ihn aus dem Feldlazarett geholt, damit er dort nicht alleine und frierend verrecken würde."

"Und damit er euch verraten konnte, wo die Beute ist."

Néris schwieg. Regis breitete die Arme aus.

"Es tut mir leid, aber das überzeugt mich nicht."

"Du weißt, was ihm bevorsteht, wenn wir ihnen nicht folgen. Erskine und Osyan ... Du bist ihnen doch begegnet. Du hast gesehen, wie sie sind."

"Und wie genau bist du?"

"Ich interessiere mich nur für das Gold. Ich will nicht, dass er stirbt."

"Wie großmütig."

"Das Großmütige überlasse ich dir, Regis. Nein, widersprich mir nicht. Ich habe gesehen, wie du dich tagelang um Arnault gekümmert hast. Und mir hast du auch geholfen, obwohl du nicht musstest. Du willst die Wahrheit hören? Ganz einfach: Du weißt genau, dass er ohne unsere Hilfe sterben wird. Du wirst mit mir kommen, weil dein Gewissen es von dir verlangt."

Dettlaff öffnete die Falltür im Boden.

"Sie hat recht, Regis", sagte er. "Also bringen wir es hinter uns."

*

Im Keller war es feucht und dunkel.

Regis fuhr mit der Kohle über den Boden, um das Symbol zu vervollständigen. In den Kreis legte er die Tonschale, die sie aus der Hütte bei Fen Carn mitgenommen hatten.

"Warum hast du ihn gerettet, Dettlaff?"

"Wen?"

"Den temerischen Soldaten, an der Ina. Du hättest ihn auch zurücklassen können."

"Hätte ich. Aber sein Leben zu retten ... Das klang wie etwas, das du tun würdest."

Der Kreis leuchtete, als uralte Magie die Luft in Schwingungen versetzte. Dettlaff stand über der Schale. Mit einer schnellen Bewegung schlitzte er sich das Handgelenk auf. Das Blut floss.

"Für mich war es immer einfach", sagte er. "Ich habe schon so viel erlebt und gesehen. Ich habe eine gefestigte Meinung über Menschen und ihre Farcen von Zivilisation. Sie breiten sich auf der Welt aus wie die Pest. Sie haben sie so schlecht hergerichtet, dass nichts funktioniert."

"Das hast du bislang gedacht."

"Das denke ich immer noch."

"Aber etwas hat sich verändert."

Dettlaff verzog das Gesicht und bewegte seine tauben Finger.

"Du siehst noch etwas anderes in ihnen", sagte er. "Du willst ihnen immer noch helfen. Das ist ..."

"Naiv?"

"Faszinierend."

Dettlaff verschloss die Wunde und trat aus dem Kreis. Regis nahm seinen Platz ein. Er hob die Schale mit beiden Händen, murmelte eine Beschwörungsformel und trank.

Frisches Blut floss in ihn und ließ ihn vor Euphorie erzittern. Seine vampirischen Sinne, die zuvor gedämpft waren, explodierten regelrecht. Er hörte jedes Flüstern. Einen Windstoß, der Schnee über die Hügel blies. Das Rauschen des trüben Wassers der Jaruga. Das Wiehern eines Pferdes und Hufschläge auf einem fernen Pfad.

*

Der Hengst schnaufte. Sorensen verpasste ihm einen Schlag mit den Zügeln. Er wollte sichergehen, dass er schnell genug von der Hütte wegkam.

Der Morgen brach bereits an, als er die Lichtung bei den Turlough-Höhen erreichte. Die Kiefern warfen lange Schatten auf die Steine. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstumpf und wickelte seinen Umhang fest um sich.

"Sabrina."

"Hast du eine Ahnung, wie spät es ist? Meinst du, Zauberinnen schlafen nicht?"

"Ich habe die Vampire gefunden."

Ein Seufzen.

"Auftrag erledigt?"

"Noch nicht. Aber ich habe ihr Gespräch belauscht. Ich weiß, wen sie verfolgen."

"Sorensen, Schätzchen ... Wenn ich einen Fährtenleser bräuchte, hätte ich einen angeheuert. Ich dachte, du wärst ein Hexer?"

"Ein Hexer, kein Idiot. Der Graue, Regis ... Ich dachte, ihn zu töten, wäre ein Gnadenstoß, aber er ist nicht auf dem Weg ins Grab. An der Jaruga hypnotisierte er eine Gruppe Soldaten."

"Willst du neu verhandeln?"

"Ich will Hilfe."

Ein leises Lachen.

"Zum Glück für dich bin ich vorbereitet."

Ein Blitz, dann öffnete sich ein Portal in der Nähe. Macht schoss aus dem wirbelnden Chaos hervor und nahm die Form einer Waffe an. Die Umrisse wurden immer klarer, bis sie von Hitze erfüllt und zu einem festen Gegenstand wurden. Ein verzierter Dolch fiel in den Schnee.

Sorensen hob ihn auf und fuhr mit der Fingerspitze über die Runen.

"Was soll ich damit machen? Holzpfähle schnitzen?"

"Er ist verzaubert. Seine Macht wird bei der Berührung mit vampirischem Fleisch aktiviert. Ich konnte den Zauber nicht vollständig nachahmen, aber die Macht, die ich in den Dolch gelegt habe, sollte ausreichen."

"Bist du dir sicher, dass das funktionieren wird?"

"Nein. Vilgefortz, der Erfinder dieses Zaubers, war teuflisch clever. Diese Formel nachzuahmen, war eine teure Herausforderung. Schon allein das Verfahren, um den Zauber in der Klinge zu speichern, dauerte eine ganze Woche. Benutze den Dolch mit Bedacht. Du kannst ihn nur einmal verwenden."

"Darf ich dich daran erinnern, dass die zu zweit sind?"

"Ja, ja. Aber du, mein Lieber ..."

Sorensen seufzte. Er erhob sich von dem Baumstumpf und steckte sich den Dolch in den Gürtel.

"Aber ich bin ein Hexer."

"Und dir wird schon etwas einfallen." Sie hielt inne. "Nicht wahr?"

Sorensen stieg auf sein Pferd. Er blickte auf die Schlittenspuren, die über die Lichtung gen Westen führten.

"Mir bleibt ja nichts anderes übrig."
Kapitel 10
Die Tür, die bereits recht mitgenommen an einer Angel hing, schlug gegen die Wand, als Osyan schnaufend und schimpfend aus dem Sägewerk stürmte.

"Nichts. Nichts! Nicht mal eine einzige rostige Münze!"

"Hast du die losen Ziegel gefunden, die er erwähnt hat?"

"Hast du diesen Keller gesehen? Die Hälfte der Ziegel sind lose! Ich hab die halbe Wand demoliert und da war kein Versteck! Von draußen fällt bloß lauter Dreck rein, verdammt noch mal! Ich sag's dir, wir sind am falschen Ort."

Erskine sah sich auf der Lichtung um: ein ausgegrabenes Massengrab und verstreute, gefrorene Leichen, die von wilden Tieren angeknabbert worden waren. Schwarze nilfgaardische Umhänge mit dem Skorpionabzeichen darauf.

"Wir sind schon richtig hier. Das sind die Leichen der Lanzenreiter der Siebten Daerlan-Brigade. So wie der alte Mann es gesagt hat."

"Dann muss er irgendetwas verwechselt haben. Weck ihn auf."

Vom Schlitten ertönte ein rasselndes Lachen; der Feldwebel war bereits wach und hatte ihrem Gespräch gelauscht. Er kostete sein Gelächter regelrecht aus.

"Was lachst du so?", knurrte Osyan und holte aus, um den alten Mann zu schlagen. Erskine packte ihn am Handgelenk.

"Beruhig dich doch mal. Er hat etwas gesagt."

Erskine lehnte sich hinab zum Mund des Kommandanten, um sein raues Flüstern zu verstehen: "Ihr seid eh schon tot, ihr verdammten Idioten."

Der Feldwebel zog mit einem Grinsen die Hand unter den Pelzen hervor und deutete mit zittrigem Finger Richtung Dillingen. Die tiefstehende Sonne, die sich hinter einem Wald aus kahlen Eschen versteckte, warf lange, bedrohliche Schatten über das Land. Die beiden Deserteure starrten in die Richtung, in die der alte Mann gezeigt hatte.

Plötzlich ging Erskine in die Hocke und sah sich die ihm nächste Leiche genauer an. Die Panzerung war von einem Gewirr aus Klauenspuren gezeichnet und letztlich aufgebrochen worden, um das gefrorene, zerfetzte Fleisch darunter freizugeben. Die Knochen waren zertrümmert und zerbissen von bedeutend stärkeren Kiefern als denen eines Wolfs.

Der Temerier, der jetzt so bleich war wie die Leichen vor ihm, schreckte hoch und wandte sich seinem Partner zu.

"Totenfresser."

Das bösartige Lachen des Feldwebels ertönte in ihren Ohren, während furchteinflößende Augen in der einbrechenden Dunkelheit wild zwischen den Bäumen aufblitzten.

*

Der Hexer folgte den Spuren des Schlittens. In der Abenddämmerung wurde der Wald zu einer Lichtung, auf der eine verlassene Holzfällerhütte neben Grüppchen gefällter Bäume stand. Plötzlich durchbrach ein hungriges Heulen das sanfte Plätschern des Flusses. Und wütendes Bellen. Das Pferd schnaubte, warf den Kopf hoch und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiter vorwärts zu machen. Also musste er es zurücklassen und zu Fuß weitergehen.

Sorensen trat zwischen die Bäume und dann auf die Lichtung. Der Vollmond tanzte auf dem silbernen Wasser der Jaruga, auf dem silbernen Schnee, auf dem silbernen Schwert des Hexers. Eine Gruppe Ghule schlich um das Sägewerk herum und versuchte, an die Leute heranzukommen, die sich darin verbarrikadiert hatten. Beim Wasserrad stand ein verlassener Schlitten. Eine der elendigen Kreaturen verschlang gerade einen armen Teufel, der noch auf dem Schlitten lag. Das grauenhafte Schmatzen und Krachen von zerfetztem Fleisch und zerschmetterten Knochen erfüllte die Luft.

Ein Bolzen aus der Arbalest holte das Monster vom Schlitten herunter und nagelte es an einen Baum.

Sorensen nahm eine kleine Bombe vom Haken an seinem Gürtel, zündete die Lunte mit Igni an und machte sich an die Arbeit.

*

Der Hexer war ehrlich gesagt ebenso angsteinflößend wie die Totenfresser.

Seine Schlangenaugen. Angeschwollene, schwarze Venen, die an seinem Hals und seinen Schläfen hervortraten. Seine Kleidung durchtränkt vom faulen Gestank von Monsterblut.

"Habt ihr Suff?"

Irgendwie machte das den Mann gleich sympathischer. Osyan reichte ihm eine Feldflasche.

"Eure Freunde sind auf dem Weg hierher. Sie werden bald hier sein."

Die Deserteure warfen sich kurze Blicke zu. Instinktiv legte Erskine die Hand an den Griff seiner Klinge. Auch wenn er sich kaum Chancen ausmalte.

"Warum denkst du, dass wir in einer größeren Gruppe unterwegs sind? Bist du unseren Spuren gefolgt?"

"Nur die beiden, die unterwegs zu euch gestoßen sind."

"Hast du Ärger mit denen?"

"So was in der Art. Ich würde für sie bezahlt. Ich bin ein Hexer, falls ihr es noch nicht gemerkt habt."

"Und die sind, was, Ertrunkene?"

"Vampire."

Einen Moment lang war Erskine sprachlos.

"Die wirkten ganz normal", sagte er endlich mit erstickter Stimme.

"Mich überrascht es auch." Der Hexer zuckte mit de Schultern. "So oder so sind sie äußerst tödlich."

Osyan trat voller Enttäuschung gegen einen Haufen alter, rostiger Werkzeuge, so als wären sie persönlich für sein Versagen verantwortlich. Der Haufen antwortete mit einem traurigen Scheppern und fiel auseinander.

"Der alte Mann hat uns reingelegt. Hat uns hierher geführt, um uns dem Tod auszuliefern. So ein langer Weg und wir verdienen keinen müden Oren am Ende."

Der Hexer griff in seinen Beutel. Er drehte die Münze in seinen blutigen Fingern hin und her. Auf der Vorderseite die Sphinx. Auf der Rückseite ein Streitwagen. Uraltes Gold glänzte im Mondlicht. Die Deserteure schnappten nach Luft und starrten gebannt auf die Münze.

"Ich weiß nicht, was ihr hier vorhattet. Aber ich denke, ich habe eine bessere Idee. Ich brauche Partner."

"Und du zahlst ..." Osyan schluckte. "... mit Gold?"

"Ich? Nein." Der Hexer lächelte boshaft. "Vampire. Die haben noch mehr davon. Und ihr ... ihr könnt mir helfen, ihnen eine Falle zu stellen."
Kapitel 11
Auf dem Schlachtfeld war es still. Das Licht des Vollmonds ließ die Eiszapfen am Dach der Sägemühle glitzern – genau wie die rostigen Rüstungen der gefallenen Soldaten.

Sie hatten den Schlitten beim Wasserrad aufgespürt.

Regis stieg über die blutigen Überreste der Stute. Dann sah er unter den Fellen nach, wo der Feldwebel lag.

Leere Augenhöhlen starrten ihm entgegen. Die Wangen zerfleddert. Der Mund erstarrt in einem gequälten Schrei.

Néris beugte sich abrupt vor und erbrach sich.

Irgendwo hinter ihnen im schattigen Dickicht klirrte ein Bolzenring.

Dann durchzuckte etwas die Dunkelheit. Das Geschoss zertrümmerte Regis' Arm und nagelte ihn am Schlitten fest. Die Wunde zischte und rauchte, und der Gestank von verbranntem Fleisch breitete sich aus.

"Da drüben!", rief Néris. Sie riss das Schwert aus der Scheide und rannte auf die Bäume zu.

Dettlaff wusste bereits, mit wem sie es zu tun hatten. Er erinnerte sich an das Geräusch; und an das Funkeln von Runen auf Silber.

Ohne zu zögern, verwandelte er sich und flatterte Richtung Wald. Er überholte Néris und stürzte sich ins Dickicht, wo er den Hexer erwartete.

*

Das Monster hatte den Köder geschluckt.

Sorensen beobachtete, wie es in den Himmel aufstieg, die Flügel ausbreitete und zwischen den Bäumen verschwand. Mit gezücktem Schwert jagte die Condottiere der Bestie hinterher.

Der Hexer war dankbar für ihren Beschluss; er hätte sie nur ungern getötet, bloß, weil sie ihm im Weg war.

Er stürzte seinen Trank hinunter, seufzte schwer und sprang aus der Deckung hinter einem Holzstoß hervor. Mit zwei langen Schritten hatte er den Vampir erreicht, der immer noch an den Schlitten gefesselt war. Ein einziger flinker Streich würde reichen, den Blutsauger zu enthaupten.

Pfeifend rauschte die Silberklinge durch die Luft.

Einen Herzschlag zu langsam.

Im letzten Moment konnte sich der Vampir befreien und den Hieb mit den Klauen abwehren. Doch der Hexer erlaubte keine Pause. Er täuschte einen Abwärtsschlag an, unterbrach seinen Schrittrhythmus und warf sich nach vorn, um den Unterleib der Bestie anzuvisieren.

Das Monster wich geschickt aus und ging dann selbst zum Angriff über. Seine schimmernden Klauen verfehlten Sorensens Kopf nur um wenige Zentimeter. Der Hexer ließ sich auf die Knie fallen und setzte wieder zum Hieb an, diesmal auf die Beine. Endlich traf er sein Ziel und versetzte der Bestie eine klaffende Wunde am Unterschenkel. Kaum einen Augenblick später hatte er den Hals im Visier. Der Vampir versuchte, sich mit der Hand zu schützen. Die Klinge fuhr ihm durch die Finger, verlor dadurch an Schwung und zischte am Schlund des Monstrums vorbei.

Sofort stürzte es sich auf den Hexer und legte ihm die Klauen um den Hals. Sorensen grunzte, schnappte sich eine Bombe vom Gürtel und ließ sie fallen. Ein Knall, gefolgt von kreischendem Geheul. Dichter Nebel breitete sich aus und verschleierte alles, außer der unmittelbaren Umgebung. Der Hexer schwang sein Schwert, zerfetzte die Brust der Bestie und warf sie dann mit dem Aard-Zeichen zurück. Der Vampir torkelte rückwärts und stieß mit dem Schlitten zusammen, wo er und der Leichnam des Feldwebels im Nebel verschwanden.

Sorensen atmete gierig ein und rieb sich den Nacken. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Das Monster war blutüberströmt; die Wunden, die das Mantikorsilber gerissen hatte, würden sich jeden Moment entzünden und es weiter schwächen.

Der Hexer umklammerte das Schwert mit beiden Händen und versuchte, seine Atmung zu beruhigen.

"Zeit, das zu beenden", sagte er.

*

Menschliche Umrisse blitzten rot vor Dettlaffs Augen auf. Ein Armbrustschütze und ... noch jemand, der im Schatten lauerte. Das Blut der Verborgenen barg einen vertrauten Geruch. Es waren die Narren, die noch vor Kurzen zu seiner Reisegesellschaft gehört hatten. Den Hexer roch er nicht. Verstörend.

Die Sehne sirrte, aber der Bolzen verfehlte, mitten im Flug mit einer fast beiläufigen Geste verscheucht wie eine lästige Fliege. Dettlaff flog tiefer, beschleunigte und versetzte dem Schützen einen Stoß mit der Schwinge, sodass er von seinem Ast fiel. Im Sturz ließ er die Waffe fallen und kam mit einem dumpfen Geräusch hart auf dem Boden auf.

Dettlaff zog einen engen Bogen in der Luft und landete. Kurz darauf hatte er seine menschliche Gestalt angenommen. Der andere Mann hatte scheinbar gehofft, er hätte ihn nicht bemerkt, denn schon sprang er aus seinem Versteck, den Dolch gezückt – bereit, den Vampir am Hals zu treffen. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit fing Dettlaff das Handgelenk des Mannes ab, ehe der auch nur in die Nähe seines Nackens kam. Sein Blick ruhte auf der Waffe, die eingeschnitzten Runen von einem rätselhaft schimmernden Blau. Sein Interesse war geweckt, aber nur für einen Moment. Schon wandte er sich wieder dem Mann zu und zermalmte ihm die Knochen. Der Angreifer heulte auf, und die Klinge rutschte ihm aus den schlaff gewordenen Fingern. Dettlaff schubste ihn rückwärts in den Schnee.

Finster starrte er die beiden hilflosen Männer an, die vor Angst bebend vor ihm kauerten. Sie sahen ihn an wie verurteilte Kriminelle, die ihre Strafe erwarten. Die Herzen hämmerten ihnen in der Brust. Ihre Lungen dehnten sich aus, ihr Atem abgehackt. Sie atmeten aus, und Dampf durchzog die eisige Luft. So viel Furcht, Zittern, Kampf und Täuschung – was würde es bringen? Wozu war all das gut?

"Warum?", verlangte er zu wissen. Sein Atem war kalt. Kein Dampf.

Ehe sie die engen Kehlen und klappernden Zähne zum Funktionieren zwingen konnten, tauchte Néris aus Richtung der Sägemühle auf.

"Das sind Monster", keuchte Osyan vorwurfsvoll und hielt sich das zerborstene Handgelenk. "Du bist bei ihnen geblieben, obwohl sie Monster sind!"

Néris würdigte ihn keiner Antwort. Ihr entging allerdings nicht sein gieriger Blick in Richtung Dolch, den sie umgehend aufhob, ehe sie sich an Dettlaff wandte.

"Sie haben den Feldwebel getötet. Gib ihnen den Rest, sonst tu ich's."

Der Vampir bedeutete ihr zu warten.

"Ich verstehe es immer noch nicht. Warum?", wiederholte er. "Der Kommandant hat euch hergeführt. Hätte es nicht ausgereicht, das Geld zu nehmen und zu verschwinden? Wieso habt ihr die Waffen gegen uns gezogen?"

"Da war kein Geld!", kreischte Osyan. "Der Alte hat uns auf ein Schlachtfeld voller Totenfresser gelockt! Er hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen, dieser verräterische Bastard!"

"Aber der und der andere", ergänzte Erskine und zeigte auf Dettlaff, "haben echte königliche Schätze bei sich! Gold aus uralten Gräbern. Was sie benutzt haben, um das Pferd zu bezahlen. Der Hexer ... der Hexer hat's uns gezeigt."

Metall blitzte auf. Néris fing die Münze auf, die ihr der Temerier zugeworfen hatte, und untersuchte sie. Die war bestimmt ein Vermögen wert.

"Die haben noch mehr davon. Mehr als du je ausgeben kannst. Wir sind dem Schatz des Feldwebels hinterhergelaufen, und die ganze Zeit ..."

Dettlaff war enttäuscht. Regis hatte ihn fast soweit gehabt, zu glauben, dass diese Kreaturen doch Gutes in sich trugen. Dass Menschen nicht nur verräterische Trottel waren, voller Gier und bezaubert von primitivem Verlangen. Dass sie keineswegs so abscheulich und minderwertig waren, wie sie auf den ersten Blick schienen. Aber sein Freund hatte Unrecht. Sie waren unverbesserlich. Genau wie im Geheimversteck des Feldwebels, gab es auch unter den Menschen keine Schätze zu finden. Die Truhe stand weit offen, und wie üblich war sie leer – so würde es immer sein.

Dettlaff hob den panisch um sich schlagenden Osyan mit einer Hand auf. Er neigte den Kopf, entblößte die Fangzähne und atmete tief den Duft des Blutes ein. Euphorie durchzuckte ihn.

Dann flammte ein plötzlicher Schmerz auf.

Mit der Geschwindigkeit einer Viper hatte Néris den Dolch bis zum Heft in Dettlaffs Arm versenkt. Der Vampir ließ Osyan fallen, machte einen Satz nach hinten, zischte und bleckte die Zähne. Blaue Flammen loderten auf, wo die verzauberte Klinge ihm ins Fleisch gerammt worden war. Das magische Feuer droht ihn zu verschlingen – zuerst den Arm, dann erreichte es seine Kehle. Er griff nach der Waffe und versuchte verzweifelt, sich vom bösen Zauber zu befreien. Doch schon war Erskine zur Stelle, schnappte sich die Armbrust, zielte und feuerte. Ein Silberbolzen sirrte durch die Luft und nagelte den anderen Arm des Vampirs an einen Baumstamm.

Dettlaff war gefangen, der einzige Ausweg die Macht des Bluts. Er versuchte, sich zu verwandeln, doch das Silber des Hexers verhinderte die Metamorphose.

Der Vampir stieß ein fürchterliches Geheul aus, und die Nacht antwortete mit einem fernen Bellen.

"Ich will, dass mein Anteil verdoppelt wird", sagte Néris und half Osyan auf die Füße.
Kapitel 12
Er versuchte aufzustehen, aber sein verletztes Bein wollte nicht gehorchen. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner Brust. Seine fingerlose Hand pochte dumpf und unaufhörlich.

Neidvoll musterte Regis den Feldwebel neben ihm. Wenigstens musste der sich nicht mehr quälen.

Der Hexer kam näher. Der Mond tanzte auf der Silberklinge.

Es gab nur einen Ausweg.

Es tut mir leid.

Er kroch zur Leiche und versenkte die Fangzähne darin.

Ein metallischer Nachgeschmack stahl sich auf seine Zunge. Die Euphorie traf ihn in Wellen, wie ein Puls. Die Wunden schwanden, der Schmerz ließ nach und driftete weit fort.

Der Hexer trat ins Sichtfeld des Vampirs und fluchte. Regis erhob sich. Dann atmete er tief durch. Seine Augen verfärbten sich rot.

Er brüllte wie ein wildes Tier. Sein Gesicht verzog sich zu einer eigenartigen Maske; lange Klauen schossen ihm aus den Fingern der gesunden Hand.

Plötzlich verschwamm alles. Er beobachtete sich selbst wie durch einen Schleier – wie ein Eindringling im eigenen Körper, geschmückt mit dem Kostüm einer wilden Bestie.

Und diese Bestie brüllte nach Blut.

Der Hexer machte ein Zeichen, aber diesmal wich ihm das Monster mit Leichtigkeit aus, sodass die Energiewelle nur Schnee aufwirbelte. Er griff nach einer Bombe, doch er war zu langsam. Viel zu langsam. Der Vampir versetzte ihm einen gewaltigen Schlag und versenkte die Klauen tief im Fleisch des Hexers. Die Silberklinge fiel aus kraftlos gewordenen Fingern in blutrot gesprenkelten Schnee.

Die Bestie entblößte die Fangzähne.

Die Arterie pochte, das Herz schlug, das Blut pumpte. Es war Zeit für den Vampir, sich dem Ruf seiner Natur hinzugeben. Das zu tun, wozu er gemacht war.

Ich will das nicht.

Regis erstarrte. Seine Gesichtszüge glätteten sich, und die Klauen verschwanden zischend. Er ließ den Hexer los, und der fiel in den Schnee.

Dann lauschte er der Stille kurz vor Sonnenaufgang. Bald verhallte der Rhythmus des fließenden Bluts und verschwand schließlich ganz. Er stieg über den Jäger und sah ihm in die Augen.

"Ich bin kein Monster", stellte er klar.

Dann machte er kehrt, lief in den Wald und ließ den Hexer allein.

*

Die blaue Flamme versengte Dettlaffs Hand und Unterarm und erreichte Schulter und Nacken.

"Der Hexer hat gesagt, die gibt ihm den Rest. Verbrennt ihn bis auf die Knochen."

"Lassen wir's nicht zu, dass er uns zum Narren hält wie der Alte! Wo ist das Gold, Bastard?", drängte Osyan.

Der Vampir wackelte mit den tauben Fingern seiner intakten Hand. Der Bolzen im Arm ließ ihm kaum Spielraum. Er warf den Umhang zurück, löste den Beutel vom Gürtel und warf ihn auf den Boden.

Osyan war trotz seiner Wunden der Erste, der danach griff. Ein Geräusch ertönte – das Klicken einer Armbrust, die geladen wird.

"Lass das liegen, du Sauhund", knurrte Erskine. "Wir sind hergekommen, um Beute zu machen, und du bist nicht mal Soldat, nur ein Streuner."

"Ich hab aber geholfen!"

"Geholfen, du?! Néris hat ihn aufgespießt."

"Deshalb will ich auch einen größeren Anteil", sagte sie.

"Vergiss es." Erskine beäugte Néris von der Seite. "Bis eben hast du noch mit Blutsaugern zusammengearbeitet. Osyan, noch ein Schritt, und ich verpass dir ein neues Loch."

"Wir ... wir sind zu zweit ... So ... so schnell kannst du nicht nachladen ..."

"Mach ihn kalt, Erskine, dann verschwinden wir. Ehe der Hexer vorbeikommt und seinen Anteil verlangt."

Erskine schnaubte. "Du bist eine richtige Schlange."

"Summen lassen sich einfacher halbieren als dritteln."

"Du willst dich ernsthaft mit einem Hexer anlegen?"

"Zu zweit kriegen wir den schon klein."

"Soll das ein Witz sein? Ich werde einen Teufel tun, auch nur eine Nacht in deiner Nähe zu schlafen."

Osyan versuchte, die Auseinandersetzung seiner Gefährten auszunutzen und lief in den Wald. Aber sie holten ihn schnell ein. Néris stellte ihm ein Bein. Er rollte über den gefrorenen Boden und stürzte in eine Wasserrinne. Dann ging der Streit weiter.

Bald blitzten zwischen den Bäumen mehrere Augen auf. Sie waren Dettlaffs Ruf gefolgt und in Scharen gekommen. Lautlos umzingelten sie die Esche, nur einen Steinwurf von den nichtsahnenden Deserteuren entfernt. Heißer Speichel tropfte ihnen von den Lefzen in den Schnee, während sie weitere Befehle abwarteten.

Einer von ihnen riss mit den Zähnen den Bolzen aus dem Baum, an den Dettlaff gefesselt war. Der Befreite streckte die steifen Finger aus. Mit einem abscheulichen Knirschen riss er sich den durch magisches Feuer nutzlos gewordenen Arm vom Rumpf und warf ihn von sich, wo er zischend im Schnee liegenblieb.

Er hob die Hand, und die versammelten Kreaturen der Nacht erbebten vor Anspannung. Der Feldwebel hatte diese Leute scheinbar gut gekannt. Er hatte gewusst, was sie verdienen. Also fasste Dettlaff ihm zu Ehren einen Entschluss.

Er ließ die Totenfresser los.

*

Als es dämmerte, fing es an zu schneien.

Dettlaff saß allein an der alten Esche. Regis kam näher und kniete sich neben ihn. Schweigend starrten sie die drei Leichen an, die nach und nach unter einer weißen Decke verschwanden. Goldmünzen lagen zwischen ihnen zerstreut.

"Die beiden ... hatten Bestrafung verdient", sagte Regis. "Aber kein solches Schicksal."

"Sie alle. Alle drei. Sie haben sich das selbst eingebrockt. Ihre Natur war ihre Verdammnis."

"Du bist jetzt also Experte für die menschliche Natur?"

"Experte? Nein. Aber ich habe die Wahrheit erlebt."

Dettlaff fiel Regis' verletzte Hand auf.

"Der Hexer?"

"Ich habe ihn gehenlassen."

"Du bist von Sinnen."

"Nein. Ich bin nur nicht der, für den du mich hältst."

Die Sonne lugte durch die Bäume. Ein eisiger Wind blies den Schnee von den blattlosen Ästen. Regis erhob sich und richtete die Tasche.

"Ich gehe."

Dettlaff starrte in Néris' glasige Augen. Dann nahm er ihr eine Münze aus der Hand.

"Geh nur", sagte er. "Lebe unter den Menschen. Deiner Sippe. Mögest du bei ihnen nicht dein Ende finden."

"Und du? Was willst du jetzt tun?"

Dettlaff steckte das Gold in die Börse.

"Weiß ich noch nicht. Aber ich weiß, wo ich anfange."

*

Flip, flip, flip. Platsch.

"Sabrina."

Er nahm einen neuen Kiesel. Flach. Glatt. Perfekt. Die stille Oberfläche der Jaruga glitzerte im Sonnenlicht.

Flip, flip, flip, flip. Platsch.

"Ist es erledigt?" Ihre Stimme drang aus dem Xenogloss.

"In gewisser Weise. Ich trete vom Auftrag zurück."

Einen Momentlang herrschte Stille – die von der Sorte, kurz vor einem schweren Sturm.

"Was soll das heißen, du trittst zurück?" Ihre Stimme troff vor Gift – schlimmer als jeder Skorpionstachel.

"Du hast richtig gehört." Sorensen drehte den Kiesel mit den Fingern, wog ihn auf der Handfläche und warf ihn dann aufs Wasser. Flip, flip, platsch.

"Du hast Angst, was? Damit ist die Katze wohl aus dem Sack. Du Feigling. Bastard. Armseliger Drecksack. Wertloses Stück Scheiße ..."

So ging es ewig weiter. Sabrina fluchte wie ein Kesselflicker. Sie besaß eine unerwartet verdorbene Fantasie. Der Xenogloss vibrierte, so als würde er ihr wütendes Gebrüll nicht ertragen.

Eine Weile hörte Sorensen noch zu und starrte aufs Wasser. Dann wurde er des Gejammers müde. Er hob die magische Kiste auf und wog sie in der Handfläche.

Platsch.

*

Ein Scheit zerbarst im Ofen, und angenehme Wärme breitete sich im Raum aus.

Aine setzte sich auf die Felle und nahm den Bogen zur Hand. Der Klang der Fidel war schief. Sie drehte am Wirbel, um das Instrument zu stimmen, doch bevor sie sie zum Spielen ansetzen konnte, öffnete jemand die Tür.

Sie erkannte ihn sofort.

"Wo ist dein Vater?"

"In Kagen. Und deine ... Gefährten?"

"Ich bin allein."

"Komm nur herein, Herr. Hier ist es warm."

Der Neuankömmling setzte sich an den Tisch. Nachdenklich starrte er in die Flammen.

"Ludka hat euch gut gedient?"

"Sie hat das Ende ihrer Reise erreicht."

Aine legte das Instrument weg und stocherte im Feuer. Der Fremde griff sich an den Gürtel.

"Das Gold, das ich euch gab ... war mehr wert als du denkst."

"Wir haben es nicht mehr."

"Ich weiß."

Der Mann band die Börse auf und legte zwei Münzen auf den Tisch. Aine seufzte.

"Nein ... das ist nicht richtig. Du hast angemessen für Ludka bezahlt. Es ist nicht deine Schuld, dass wir das Gold wegen meiner Dummheit verloren haben."

Der Fremde schwieg eine lange Zeit.

"Dann betrachte auch das hier als angemessene Bezahlung."

"Wofür?"

"Für die Lektion, die du mir soeben erteilt hast."

Er stand auf und ging. Aine starrte die glitzernden Münzen an. Dann griff sie nach ihrem Mantel aus Schafsfell und rannte nach draußen in die Dunkelheit.

Die Fußspuren im Schnee verloren sich nach wenigen Schritten. Der Fremde war verschwunden.

Übrig waren nur sie und der eisige Wind, der durch die einsamen Bäume pfiff. Der Vorbote für einen langen Winter.
 
Top Bottom