Scarlett - A Netrunner's Tale

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Da mein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb sehr positiv aufgenommen worden ist, habe ich beschlossen, Scarletts Geschichte unabhängig des Wettbewerbs fortzusetzen.
Nicht jedes Kapitel wird ausufernd lange oder sehr actionreich sein. Ich möchte mir auch die Zeit nehmen, um meine Charaktere auszuarbeiten und vorzustellen. Also wird es auch ruhige Passagen geben. Aber natürlich habe ich auch schon einige Idee für spannende Action - innerhalb und außerhalb des Netzes!
Um Verwirrung zu vermeiden, fange ich natürlich wieder mit dem ersten Kapitel an, das ich ursprünglich für den Wettbewerb geschrieben habe.
Ich freue mich sehr über jegliches Feedback, egal ob positiv oder konstruktiv kritisch. Also immer her damit! Nur so kann ich besser werden. :)
Und nun wünsche ich euch viel Spaß mit Scarlett und ihren Erlebnissen in Night City!

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Kapitel 1

Der kleine Raum war plötzlich für eine Sekunde taghell erleuchtet und es krachte laut. Scarletts Ohren klingelten und sie nahm nur wage das Rumpeln der Körper wahr, die soeben links und rechts von ihr auf den Boden aufschlugen. Die Körper ihrer Weggefährten.
Vor Scarlett standen zwei große und breite Typen, die jeweils eine schwere Pistole im Anschlag hielten. Beide trugen teure schwarze Anzüge mit ebenfalls schwarzem Hemd und Krawatte und selbst im wenig beleuchteten Nachtclub hatte keiner von ihnen seine Sonnenbrille abgelegt.
„Style ist eben alles.“, hatte sich Scarlett noch vor ein paar Minuten gedacht.
Außer der verchromten Hand des Kerls links von ihr konnte Scarlett zwar keine Cyberware an ihnen erkennen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Unter der schicken Kleidung, die vermutlich teurer als ihr gesamter Besitz war, konnte sich so einiges verbergen. Alles an ihnen schrie förmlich nach Konzern-Bodyguard! Subtilität war definitiv nicht ihr Ding.
Und dann war da natürlich auch noch ihr eigentlicher Auftraggeber, der neben seinen Gorillas stand und die Show beobachtete. Er lächelte und sah Scarlett direkt an. War es das nun auch für sie? Eine Geste genügte und die Pistolen würden ein weiteres Mal sprechen. Die junge Frau schloss ihre Augen und atmete einmal tief durch. Dabei fragte sie sich, was eigentlich schief gelaufen war.

„Scarlett?“
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter.
„Hey, Scarlett! Aufwachen! Wir sind gleich da.“, sagte Rexx lauter als nötig gewesen wäre.
Eine Strähne ihres leuchtend-roten Haares fiel ihr ins Gesicht, als sie ihren Kopf ruckartig zu ihrem Kumpel drehte. Sie sah ihn für einen Augenblick verwirrt an, was durch die eigenwillige Haarsträhne noch verstärkt wurde.
„Ja. Ja, ich weiß.“, murmelte Scarlett und drehte ihren Kopf wieder Richtung Fenster des kleinen Autos, in dem sie zu dritt saßen.
Sie hing noch immer ihren Gedanken hinterher, während die vielen Neonlichter der Stadt vor ihren Augen vorbei rauschten. Night City war so anders als ihre Heimat und auch nach sechs Monaten fühlte sie sich hier noch immer nicht zuhause. Vor allem nicht in Watson. Das heruntergekommene Viertel war auf keinen Fall der Ort, an dem sie ewig leben wollte. Auch wenn sie es geschafft hatte, relativ schnell Fuß zu fassen. Scarlett war sicher nicht die Sorte Frau, die gut darin war, andere Menschen kennenzulernen. Zumindest nicht außerhalb des Cyberspace, in dem sie sich sicher und stark fühlte. Andere, echte Menschen waren eigentlich nicht ihr Ding.
Und doch saß sie hier mit Rexx und Horg gemeinsam im Auto und fuhr einem weiteren Job entgegen, für den sie die Sicherheit ihrer kleinen Bude hatte verlassen müssen. Zumindest wusste Scarlett, dass sie sich auf ihre Begleiter verlassen konnte, was in ihrem Beschäftigungsfeld mehr wert als ein gefüllter Credchip war.
Die Rothaarige löste ihren Blick von dem Wirrwarr aus Farben und wandte sich ihrem Cyberdeck zu, das zwischen ihr und Rexx auf dem Rücksitz des Wagen lag. Sie nahm es auf und checkte es schnell und offensichtlich kundig noch einmal durch. Es durfte nichts schief gehen! Der Job war wichtig, gut bezahlt und vor allem eins: Ein Kon-Job! Scarlett träumte schon lange davon für einen Konzern zu arbeiten und irgendwann ganz oben zu sein. Andere verabscheuten die Konzerne und ihre Machenschaften, aber sie wollte dazugehören. Dieser Job konnte vielleicht die erste Stufe der Karriereleiter sein. Also musste alles perfekt laufen.

Der Wagen bog in eine dunkle Gasse ein und hielt.
„Wir sind da.“, rief Horg vom Fahrersitz aus nach hinten.
Wenn es eines gab, das Scarlett an ihren Jungs kritisieren würde, dann, dass sie immer zu laut redeten. Aber es gab wohl Schlimmeres als ihr ständiges Rufen, also versuchte sie es so gut es ging zu ignorieren. Vielleicht war auch die Stadt daran schuld, die mit ihrer Lautstärke dazu animierte, die Umgebung bei Gesprächen zu übertönen.
„Scarlett, du schaltest die Sicherheit aus.“, begann Horg damit, wie üblich ihren Plan nochmal durchzugehen.
„Ich will nicht der Star auf ihren Überwachungsvideos sein. Kapiert? Rexx kümmert sich um den Rest.“
Rexx war ihr Sicherheitsexperte und verstand sich hervorragend darauf, einen Ort ungesehen zu betreten und ihn ebenso - mit mehr Besitz als zuvor - wieder zu verlassen.
„Wir brauchen dich heute aber auch vor Ort. Du musst die Daten extrahieren. Wir gehen das Risiko nicht ein, dass Rexx von einem ICE gegrillt wird.“, führte Horg weiter aus.
Das war der Teil, der Scarlett weniger gefiel. Vor Ort zu sein bedeutete, sich der Gefahr völlig auszusetzen. Aber wofür hatte sie sonst eine Pistole?
„Besser haben und nicht brauchen als umgekehrt.“, hatte ihr Rexx mal gesagt.
Und sie stimmte vollkommen zu. Dank ihrer beiden Gefährten war Scarlett auch nicht völlig unbrauchbar mit einer Waffe in der Hand. Nur hatte sie bisher noch nie auf andere Menschen geschossen. Aber machte es wirklich einen Unterschied, ob sie im Cyberspace oder in der echten Welt kämpfte? Beides konnte Menschen töten. Allerdings wirkte es im Netz weit weniger real und sie konnte die Konsequenzen ihres Handelns in der echten Welt nicht sehen.
„Keine Sorge, ich passe auf euch auf.“, fügte Horg mit einem gewinnendem, selbstsicheren Grinsen hinzu.

„Also los.“, sagte Scarlett mehr zu sich selbst als zu den zwei Männern, bändigte ihre langen Haare mit einem Haargummi und stöpselte das Kabel ihres Decks in die Datenbuchse an ihrer rechten Schläfe ein. Sogleich wechselte ihre Bewusstsein von der realen in die Virtuelle Welt.
Das Ziel war schnell gefunden und nicht zu übersehen. Eine mittelalterliche Burg ragte über weiteren, nicht außergewöhnlich designten Netzwerken auf. Als sich Scarlett in Form einer kleinen, lodernden Flamme näherte, erkannte sie auch einen passenden Wassergraben um die Burg herum. Natürlich war die Zugbrücke geschlossen und auf den Zinnen konnte man zwei gerüstete Wachen patrouillieren sehen.
„Da war jemand wirklich kreativ.“, dachte sich die Frau, während sie ihr Tarnprogramm startete.
Mit dem ICE in Form der Wachen wollte sie keine Bekanntschaft machen. Immerhin hackte sie sich gerade in eine Einrichtung von Arasaka ein, falls ihre Infos korrekt waren. Und davon ging Scarlett natürlich aus. Immerhin hatte sie sie selbst besorgt.
Nach einigen Augenblicken änderte sich ihr Icon zu dem einer Königin, stilecht in ein scharlachrotes Gewand gekleidet. Der gefälschte Adminzugang war angelegt und als sie sich auf die Zugbrücke zubewegte, begann sich diese zu senken.
„Geschafft“, jubelte Scarlett innerlich auf und loggte sich aus.

„Es kann losgehen!“, berichtete die Rothaarige, während sie den Stecker aus ihrem Kopf entfernte.
Kurz darauf fanden sich Horg, Rexx und Scarlett in den Korridoren der unterirdischen Einrichtung wieder. Die Hintertür, welche Scarlett für sie gehackt hatte, führte direkt in den Keller des Gebäudes. Weder im Cyberspace noch irgendwo außerhalb hatte irgendwas auf eine Konzerneinrichtung hingewiesen. Was auch immer hier veranstaltet wurde, es war sicher nicht offiziell!
Jetzt war Rexx an der Reihe, seinem Metier nachzugehen und so setzte sich dieser an die Spitze des Trios. Scarlett hielt sich in der Mitte, während Horg nach hinten absicherte. Sein Sturmgewehr schindete mächtig Eindruck, ebenso wie sein rechter, von oben bis unten verchromter, Arm. Zusammen mit seinem breiten und muskulösen Körper ergab sich ein sehr einschüchterndes Bild. Zum Glück war er auf ihrer Seite! Das hatte ihnen schon so manchen Ärger erspart.
Scarletts Fake-Adminzugang ersparte ihnen einiges an Arbeit. Sie hatte gute Vorarbeit geleistet, die sich nun auszahlte. Rexx konnte sich darauf konzentrieren, den richtigen Weg durch den Irrgarten aus immer gleichen und steril wirkenden Gängen und Räumen zu finden.
Menschen begegneten sie keinen. Mitten in der Nacht arbeitete auch hier niemand mehr und man verließ sich wohl weitestgehend auf elektronische Sicherheit. Allerdings zweifelte keiner der Drei daran, dass auch hier bewaffnete Wachen anwesend oder zumindest nicht weit waren. Also blieben sie trotz fehlender menschlicher Anzeichen leise und wachsam. Wer wollte sich schon freiwillig mit gut ausgestatteter und trainierter Kon-Sicherheit anlegen?
Schließlich erreichte das Trio ihr Ziel. Das Wort „ENTWICKLUNG“ prangte in großen, roten Lettern auf der Tür.
„Wartet hier. Ich sehe erst mal nach, ob die Luft rein ist.“, flüsterte Rexx, ehe er mit fliegenden Fingern das Touchpad an der Tür bediente.
Mit einem leisen, zischenden Geräusch glitt die Tür zur Seite auf und Rexx trat mit seiner Stungun im Anschlag ein. Nach einer halben Minute Anspannung, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, erschien er wieder in der Tür.
„Alles klar.“, signalisierte er knapp. „Dein Auftritt, Scarlett.“
Der Hauptanschluss war schnell gefunden. Die Rothaarige schloss ihr Cyberdeck an den Rechner an und begab sich ein zweites Mal per neuralem Interface in die mittelalterliche Arasaka-Burg.

Dieses Mal tauchte Scarlett gleich als rote Königin auf. Ihr Fake-Account war also noch nicht enttarnt worden. Sie fand sich in einem alten Gewölbe wieder. Das rötlich-braune Gestein wirkte feucht, hier und da sammelte sich Wasser in kleinen Pfützen auf dem Boden. Links und Rechts waren Gittertüren in den Stein eingelassen und dahinter verbargen sich Räume, die im Dunkeln lagen. Die flackernden Fackeln, die in regelmäßigen Abständen an der Wand angebracht waren, erhellten ausschließlich den Gang, in dem Scarlett stand.
„Verschlüsselte Datensätze. Ich sollte mich beeilen, den richtigen zu finden.“
Für genau solche Fälle hatte die Netrunnerin natürlich ihr Suchprogramm, welches sie selbst geschrieben und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten hatte. Tarnung zuerst, dann Geschwindigkeit. Entdeckt werden war für Anfänger.
Eine gerüstete Wache, die einen scharlachroten Waffenrock mit stilisierter Flamme auf der Brust trug, erschien neben Scarlett. Der Mann hatte eine große, hell lodernde Fackel in der Hand und trat sofort an die Tür des ersten Kerkers auf der rechten Seite des Ganges. Dahinter kam ein Gefangener zum Vorschein und beide führten ein kurzes Gespräch.
Scarlett schmunzelte. Die archaische Welt des Mittelalters war so völlig anders und fremdartig für sie. Trotzdem genoss sie es, sich an die Regeln dieser Kulisse anzupassen und mitzuspielen. Selbst wenn alles nur virtuell war. Aber ihr Leben spielte sich sowieso mehr im Cyberspace als in der Realität ab.
„Hab ich dich!“, jubelte Scarlett schließlich, nachdem ihr Suchprogramm den richtigen Datensatz ausfindig gemacht hatte.
Der fünfte Kerker beherbergte den passenden Gefangenen. Also entließ sie die Wache, die sich daraufhin in Luft auflöste, und sprach selbst mit dem Mann hinter Gittern.

Das unterirdische Gewölbe wich der kalten, sterilen Wirklichkeit des Untergrundkomplexes, als sich Scarlett samt der Daten erfolgreich aus dem Rechner ausloggte.
„Hab alles. Blos weg hier.“, sprach sie leise, packte die Kabel ein und schwang sich das Deck auf den Rücken.
Rexx grinste sie an. „Gewohnt schnell und professionell.“
Scarlett hatte im Netzwerk des Computers nur wenige Sekunden verbracht. Innerhalb des Cyberspace gaukelte das Interface einen normalen Zeitablauf vor, doch in der Realität ging alles rasend schnell.
Das Zischen der Tür erklang und Horg winkte seine beiden Begleiter hastig heran.
„Dann los!“
Der Rückweg verlief erneut ereignislos. Allerdings macht dieser Umstand Scarlett immer nervöser. Es konnte niemals so einfach sein, einen Megakon zu infiltrieren. Selbst eine geheime Einrichtung sollte mehr Sicherheit bieten als das, was ihnen begegnet war. Zwar vertraute sie in ihre Fähigkeiten als Hacker, aber dennoch blieb ein fader Beigeschmack.

Am Ausgang angekommen, wechselte Horg nach vorne und begab sich zuerst nach draußen. Nach kurzem Absichern folgten Rexx und Scarlett. Wie aus dem Nichts wurde der Hinterhof taghell von den Scheinwerfern eines Vans erleuchtet.
„Stehen bleiben, oder wir eröffnen das Feuer!“, rief die Stimme eines Mannes laut.
Die drei Runner tauschten einen schnellen Blick aus.
„Fuck!“, rief Horg laut und Scarlett zuckte zusammen.
Ein schneller Blick auf den Wagen lies mindestens drei Bewaffnete vermuten. Allerdings blendete das Licht und mehr als Silhouetten ließ sich nicht ausmachen.
„Auf mein Singal lauft ihr los.“, raunte Horg
„Welches Sig…?“
Weiter kam Scarlett nicht. Plötzlich hatte Horg sein Sturmgewehr im Anschlag und feuerte sofort los. Das laute Hämmern der Schüsse erfüllte die Nacht und kurz darauf war das Licht wieder aus. Scarlett konnte mindestens einen Schmerzensschrei hören. Horg hatte wohl nicht nur die Scheinwerfer getroffen. Allerdings kümmerte sie das gerade herzlich wenig. Es galt, das eigene Leben zu wahren und hier schnellstmöglich zu verschwinden.
Nun wurde auch auf sie geschossen. Feuerstöße erhellten die Dunkelheit und Kugeln prasselten gegen die Betonwände der Häuserschlucht. Auch ein geparktes Auto wurde in Mitleidenschaft gezogen. Scheiben zerbarsten klirrend, ein Reifen zischte laut auf und entließ seufzend die darin enthaltene Luft. Horg gab immer wieder einzelne Feuerstöße in Richtung des Vans ab, während er sich rückwärts bewegte, bis auch er endlich außer Sicht war. Das Trio rannte so schnell wie möglich zu ihrem Auto, das einige Straßen weiter geparkt war. Die ganze Zeit über erwartete Scarlett einen weiteren Angriff. Gehetzt warf sie einen Blick in jede Gasse, jeden Hauseingang, an dem sie vorbei rannte. Doch es geschah nichts.

„Das war verdammt knapp!“, presste Rexx schwer atmend hervor.
Horg saß wieder am Steuer und lenkte ihren Wagen auf möglichst nicht nachvollziehbarem Kurs durch Night City, weg von ihrem ehemaligen Ziel.
„Wie konnten die das wissen?“, fragte Scarlett in die Runde, ohne eine Antwort zu erwarten. „Ich hab‘ auf keinen Fall einen Alarm ausgelöst. Mein Account ist nicht entdeckt worden!“
„Keine Ahnung.“, entgegnete Horg. „Ist auch egal. Wir haben was wir brauchen, oder? Alles andere ist nebensächlich.“
Rexx nickte zustimmend und sah zu Scarlett.
„Ja, ich denke schon. Das sind die Baupläne für eine neue Maschinenpistole. Ich habe davon keine Ahnung, aber es sieht so aus, als hätte die einige Extras eingebaut.“
„Kein Wunder, dass der Job so gut bezahlt wird! Neues Spielzeug verkauft sich immer gut. Vor allem mit einem extra Kick.“, stellte Rexx lautstark fest.
Ein Wunder, dass die beiden Runner einen Job tatsächlich leise durchziehen konnten. Nun, da alles vorbei war, wurde die Lautstärke wieder auf Anschlag gedreht. Das Adrenalin der Schießerei hatte wohl auch ihren Teil dazu beigetragen. Dennoch lächelte Scarlett. Sie mochte die zwei Typen ja doch irgendwie und sie arbeiteten gut zusammen.

Scarlett hörte nur ihre eigene Atmung und das leise Wummern der elektronischen Beats des Nachtclubs, in dessen Backstage Bereich sie sich befand. Als nach einer gefühlten Ewigkeit noch immer nichts geschah, öffnete sie wieder ihre Augen. Noch immer standen die beiden Kon-Gorillas vor ihr, jedoch wurde keine Waffe mehr auf sie gerichtet. Die Pistolen waren verschwunden und wahrscheinlich wieder im Holster unter den teuren Jacketts versteckt. Stattdessen machte ihr Auftraggeber nun zwei Schritte auf sie zu. Noch immer stand dieses Businesslächeln in seinem zu perfekten und vermutlich chirurgisch angepasstem Gesicht.
„Meinen Glückwunsch, Scarlett. Sie haben bestanden.“, begann der Mann und klatsche dabei dreimal langsam in die Hände.
„Er hier,“, dabei sah der Exec auf den toten Rexx links von Scarlett, „hat leider den stillen Alarm ausgelöst, als er die Tür zur Entwicklung geknack hat. Tss Tss, stümperhaft.“
Er machte eine abfällige Geste, bevor er weiter sprach.
„Und der hier. Der war sowieso uninteressant. Wie Sie sehen, haben wir besseres Personal zu bieten.“
„Aber Sie,“, nun wandte er seinen Blick wieder zu Scarlett und sah ihr in die Augen, „Ja Sie könnte ich gebrauchen. Ihre Talente sind beeindruckend!“
Scarlett war noch immer etwas geschockt. Sie hatte keine Chance diesen Raum lebend zu verlassen, wenn es ihr Gegenüber nicht so wollte. Auch der Tod ihrer beiden Kumpel kroch erst langsam in ihr Bewusstsein.
„Arbeiten Sie für mich. Ich biete Ihnen die passenden Aufgaben für ihre Talente. Und sie kommen aus diesem Drecksloch Watson raus. Was sagen Sie?“
Plötzlich klang der skrupellose Exec einladend und freundlich. Ganz als würde Scarletts Leben nicht von ihrer Antwort abhängen und er müsste ihr den Job unbedingt schmackhaft machen. Doch ihr blieb keine andere Wahl. Und hatte sie das nicht sowieso immer für einen großen Konzern arbeiten wollen? Aber was hatte er damit gemeint, dass Rexx den Alarm ausgelöst hatte? Wie konnte er das überhaupt wissen? Scarletts Gedanken waren voller Fragen und ihr Kopf schwirrte.
Doch ihr Gegenüber erwartete zuerst eine Antwort und die musste sich die Rothaarige angesichts der Umstände nicht lange überlegen.
„Ja, ich bin dabei.“, sagte sie etwas weniger überzeugt, als sie es wollte.
„Hervorragend!“
Er lächelte nun breit und ehrlicher. Die reinen, weißen Zähne blitzten für einen Moment lang auf. Er ergriff Scarletts Hand und schüttelte sie.
„Herzlich willkommen bei Arasaka!“
 
Last edited:
Das ist ja richtig toll! Ich bewundere euch, Meistern der Wortspiele, für eure stark ausgeprägten Fähigkeiten. Ich finde die Scarlett-Geschichte sehr interessant und möchte mich gleich für die Fortsetzung bedanken. Das wird eine sehr spannende Gute-Nacht-Geschichte :ok:
 
Danke für den kurzen Post und deine lieben Worte, Lotherien! :) Es geht vielleicht doch nicht so einfach ohne einen anderen Post zwischen zwei von mir.

Hier gibts dann das zweite, kürzere Kapitel:

Kapitel 2

Scarlett stand auf dem kleinen Balkon ihres neuen Apartments in Wellsprings. Die schlanken Hände auf das stählerne Geländer gestützt, betrachtete sie die nächtliche Kulisse. Unter ihr vermischten sich die vielen verschiedenen Neonlichter zu einem einzigen Farbenbrei, der jeden Drogenrausch vor Neid erblassen ließ. Der Himmel über ihr zeichnete sich als mattes Grau zwischen den Hochhäusern ab, die sich ihm entgegen reckten.
Ihre mehr oder weniger erzwungene Rekrutierung durch Arasaka war nun etwas länger als eine Woche vergangen und der Konzern hatte tatsächlich dafür gesorgt, dass sie Watson hatte hinter sich lassen können. Nun lebte Scarlett in einem der Hochhäuser im nördlichen Heywood, das ihrem Arbeitgeber gehörte. Ebenso wie viele andere Wohnhäuser in diesem Bezirk, in denen Arasaka seine Mitarbeiter unterbrachte.
Für Scarlett war ihre neue Wohnung der pure Luxus! Die Wasserleitung lieferte rund um die Uhr heißes und kaltes Wasser. Nirgendwo gab es feuchte Flecken oder Schimmel an Decke und Wänden, weil der Mieter über ihr das Waschbecken samt Leitung in einem Wutanfall zertrümmert hatte. Keine Junkies auf den Fluren, kein Graffiti an den Wänden. Die elektronischen Geräte in ihrer Wohnung taten alle anstandslos ihren Dienst und es gab keine Ausfälle im Stromnetz oder der Anbindung an das Netz. Vor allem letzteres war ein Traum für die junge Netrunnerin! Objektiv betrachtet lebte sie aber noch immer in einem kleinen Raum, der Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer in sich vereinte. Nur das kleine, weiß gekachelte Bad mit Dusche und Waschbecken befand sich in einem eigenen Raum.
Allerdings war auch der Tod ihrer beiden Kumpels nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Scarlett hatte nie eine enge Bindung zu ihnen aufgebaut – sie hatte beide erst seit zwei Monaten gekannt – doch hatte sie Rexx und Horg durchaus gemocht. Sowohl mit ihnen zu arbeiten als auch sie als Menschen um sich zu haben. Dank der Beiden war sie auch mal aus ihrer Bude raus gekommen, selbst wenn es keinen Auftrag gab, der das voraussetzte. Aber nun...
Eine Böe trieb ihr die Haare ins Gesicht und riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Dankbar für die unerwartete Ablenkung versuchte Scarlett ihren Schopf zu bändigen, doch der Wind hatte andere Pläne. Sie seufzte und band ihr Haar kurzerhand mit einem pinkfarbenen Haargummi zu einem hohen Zopf zusammen. Es passte farblich zu ihren mandelförmigen Augen, deren Iris zur Zeit ebenfalls in einem leuchtenden Pink erstrahlten und auch ihre langen Haare hatte Scarlett in einem Farbverlauf von Pink an der Wurzel zu Rot in den Spitzen färben lassen. Ihre Liebe zu Rottönen aller Art hatte ihr auch ihren Spitznamen eingebracht, den sie heute als Alias gebrauchte.
Scarletts eigentlicher Name war Xia und so hatte sie sich auch ihren Kollegen an ihrem neuen Arbeitsplatz vorgestellt. Immerhin wusste irgendein Exec im Konzern um ihre Kompetenzen und hatte sie speziell daraufhin testen und rekrutieren lassen. Ein Deckname war da nun wirklich keine Hürde, wenn so viel über sie bekannt war. Da gab sie sich keinerlei Illusionen hin.
Zur Zeit arbeitete Scarlett in einem Büro, welches sie sich mit zwei Kollegen teilte – Dean und Vanessa. Ihre aktuelle Aufgabe bestand darin, ihre Programme auf den neusten Stand zu bringen, sie zu verbessern und sich mit ihrem neuen Cyberdeck sowie neuen Programmen vertraut zu machen. Also verbrachte die gebürtige Chinesin viele Stunden damit, Programmcode zu optimieren, neue Features zu implementieren und alles gegen Simulationen zu testen. Was dröge klang, bereitete ihr allerdings viel Freude und motivierte sie, täglich die eigene Wohnung zu verlassen. Das neue Arbeitsumfeld voller Netz-affiner Menschen sowie die Ressourcen, die ihr zur Verfügung standen, machten die Arbeit zu einem Vergnügen. Außerdem musste Scarlett bereit sein, wenn ihr erster echter Job für Arasaka anstand. Und der würde sicher nicht all zu lange auf sich warten lassen! Sie war ein Asset, das eingesetzt wurde, sobald nötig. Das war ihr sehr bewusst. Zwar war sie keine einfache Arbeitssklavin, allerdings stand sie trotzdem auf einer der unteren Stufe der Karriereleiter und nach oben war es ein langer Weg. Aber hatte sie sich genau das nicht immer gewünscht?

Erneut seufzend wandte sich Scarlett vom Anblick des nächtlichen Treibens auf den Straßen von Wellsprings ab und betrat ihre Wohnung. Der dünne Vorhang, welcher vor der Balkontür hing, schmiegte sich kurz um ihren schlanken Körper, bevor er sie wieder entließ und in seine Position vor der Tür zurück schwang. Indirektes Licht hinter dem Bett tauchte die Wände und Decke in stimmungsvolles Pink, während der Großteil der Wohnung in grauen und schwarzen Schatten lag. Die Frau schloss die Türe und sperrte somit die Geräusche der Stadt weitestgehend aus. Auch Geräuschdämmung war ein Luxus, den sie aus Watson nicht kannte und schnell zu schätzen gelernt hatte.
Scarlett schnappte sich das halbvolle Wasserglas auf ihrem Nachttisch und trank es aus. Night City war so viel wärmer als Dublin und sie war immer durstig. Es würde vermutlich noch einige Zeit dauern, bis sie sich vollends an das andere Klima gewöhnt hatte. Kalifornien war eben nicht Irland, wo sie seit ihrem dritten Lebensjahr gewohnt hatte.
Etwas Wasser im Gesicht und auf dem Nacken versprach weitere Abkühlung und so stand Scarlett einen Moment später in ihrem Bad und benetzte ihre Haut mit dem kühlenden Nass. Wohlig seufzend stand die junge Frau mit geschlossenen Lidern an ihrem Waschbecken und stützte ihre Hände auf den Rand. Wassertropfen folgten den Konturen ihres Gesichts und des Halses, zogen lange Linien auf ihrer Haut und glitten weiter an den Kurven ihres Körpers hinab, bis sie schließlich in Kontakt mit ihrem Top kamen. Das aufgesogene Wasser hinterließ dunkle Flecken auf dem weißen Stoff, die sich langsam ausbreiteten.
Scarlett genoss die Liebkosung der kühlen Tropfen so lange sie dauerte. Schließlich sah sie müde in den Spiegel über dem Waschbecken und betrachtete ihr feuchtes Gesicht.
„Es wird Zeit, dass du ins Bett gehst. Sonst siehst du morgen noch genauso beschissen aus wie jetzt.“, sagte sie zu sich selbst.
Gerne hätte sie sich eine ausgiebige, kühle Dusche gegönnt. Allerdings sie hatte nun einen festen Job. Das bedeutete, dass zu festen Zeiten der Wecker klingelte und lange Nächte kurze Tage und wenig Schlaf zur Folge hatten. Auch daran würde sich Scarlett gewöhnen müssen. Freiberufler zu sein hatte durchaus seine Vorteile, wenn es um die Zeitgestaltung und die Auswahl der Jobs ging. Allerdings hatte sie dank Arasaka Zugriff auf Ressourcen, von denen sie zuvor nur geträumt hatte. Und so lange sie ihren Job machte, musste sie nie auch nur einen Gedanken daran verschwenden, wie sie die nächste Woche überstehen konnte. Für sie war das ein guter Deal.
 
Last edited:
Kapitel 3

Noch war alles still, als Scarlett den Raum betrat. Keiner der Bildschirme war eingeschaltet, kein Cyberdeck summte geschäftig vor sich hin, kein Mensch war zu sehen. Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht der Netrunnerin, während sie an ihren Platz heran trat. Sie ließ sich auf ihren durchaus bequemen Stuhl fallen, drehte sich einmal damit im Kreis, ehe sie sich an der Tischkante festhielt, um keine weitere Runde zu drehen.
„Wie schön es doch ist, allein zu sein.“, dachte Scarlett noch immer lächelnd.
Auf dem Weg zu Arasaka im City Center war sie, für ihren Geschmack, viel zu vielen Menschen begegnet. Im Fahrstuhl, auf der Straße, in der U-Bahn. Die sehr heterogene Masse war am Tage das, was nach Sonnenuntergang die vielen bunt beleuchteten Werbetafeln und Shopnamen waren. All die mal mehr, mal weniger ausgefallenen Stile der Menschen kämpften um Aufmerksamkeit. Blitzender Stahl, bunte Frisuren und unterschiedlichste Kleidung sowie Accessoires sorgten allerorten für eine Reizüberflutung beim Betrachter. Doch eigentlich waren es die klassisch gekleideten Businessmenschen, die mit ihrer Schlichtheit aus dem Wahnsinn an Individualisierung wirklich herausstachen.
Scarlett selbst hatte nie den Drang verspürt, sich hervorheben zu müssen. Sie war froh, wenn sie von niemandem wirklich wahrgenommen wurde. Weder hatte sie besondere Cyberware installiert, noch kleidete sie sich auffällig. Meistens trug sie einfaches Schwarz oder Weiß und auch ihr Kleiderschrank gab keine ausgefallenen Kleidungsstücke her. In praktischer und bequemer Kleidung fühlte sie sich am wohlsten. Heute trug Scarlett ein einfaches, schwarzes Top sowie eine farblich passende leichte, lange Hose. Einzig ihre Stiefel waren, analog zu ihren Haaren, in rot gehalten und mit einer dicken, pinkfarbenen Sohle ausgestattet. Allerdings waren selbst ausgefallen gefärbte Haare im Jahre 2077 schon lange nichts Besonderes mehr. Und so ging die junge Frau in der Masse an Extravaganz unter.

Kaum hatte sich Scarlett mit ihrem Arasaka-Account eingeloggt, öffnete sich auch schon ein Chatfenster. Es war Mr. Ito, ihr direkter Vorgesetzter.
„Guten Morgen, Ms. Lin. Bitte kommen Sie doch in mein Büro.“
„Bin auf dem Weg.“, bestätigte Scarlett knapp.
Einen Moment später streifte sie auch schon durch die noch leeren, hell erleuchteten Flure. Scarlett wirkte mit ihren neonfarbenen Haaren im sterilen Weiß und Grau wie ein Fremdkörper. Manchmal, wenn die Arbeit ihre Aufmerksamkeit nicht vollkommen in Anspruch nahm, fühlte sie sich auch so. Noch hatte sie sich nicht daran gewöhnt, für einen Konzern zu arbeiten, statt frei zu sein und tun und lassen zu können was sie wollte. Alte Gewohnheiten waren eben schwer abzulegen.
Nun war allerdings nicht die Zeit, um über solche Dinge nachzudenken. Scarlett war am Büro von Mr. Ito angekommen. Also musste sie ihre immerzu aktiven Gedanken zumindest so lange im Zaum halten, bis sie das kommende Gespräch hinter sich gebracht hatte.
Scarlett zögerte noch einen Moment lang, klopfte schließlich an und trat ein. Mr. Ito, ein Japaner Mitte 50, saß hinter seinem großen Schreibtisch aus dunklem Holz, welcher so gar nicht in das ansonsten moderne Büro passen wollte. Er selbst trug weißes Hemd und eine dunkelblauen Krawatte, die zur Anzughose passte. Scarlett entdeckte auch das passende Sakko, welches über einem weiteren Stuhl hinter der Tür lag. Das schwarze Haar trug der Mann kurz geschnitten und an seiner rechten Schläfe war deutlich eine Datenbuchse zu erkennen. Auf dem Tisch standen drei Bildschirme und davor waren ein Cyberdeck sowie diverse Eingabegeräte ausgebreitet. Dennoch wirkte alles aufgeräumt.
„Guten Morgen Mr. Ito.“, begrüßte Scarlett etwas schüchtern ihren Vorgesetzten, als sie eintrat.
„Ms. Lin, bitte nehmen sie Platz!“, begrüßte er die Frau.
„Ich nehme an, Sie haben sich in ihrer ersten Woche etwas einleben und sich mit ihrer neuen Umgebung sowie der Hard- und Software vertraut machen können.“, begann er, während sich Scarlett auf dem Stuhl gegenüber Ito niederließ.
Sie nickte.
„Sehr gut. Denn nun geht es für Sie richtig los.“, fuhr er fort. „Wie Sie vielleicht wissen, ist Arasaka Marktführer auf dem Bereich der privaten Sicherheit, egal ob physisch oder virtuell. Wir bieten unseren Kunden den besten Service, den man für Geld kaufen kann. “
Wieder nickte Scarlett, während sie ihren Gegenüber ansah und zuhörte. Der Japaner klang dabei ein wenig wie ein Vertreter, der ihr ein Produkt schmackhaft machen wollte.
„Ihre Talente wären in einem Büro natürlich vollkommen verschwendet und dazu wurden sie auch nicht rekrutiert. Deshalb teile ich Sie einem Team als Netrunner zu. Sie werden zusammen mit ihrem Team Jobs für unsere Kunden, aber auch für Arasaka selbst erledigen, die zu ihren Talenten passen.“
Innerlich jubelte Scarlett auf. Das war genau das, was sie wollte. Im Cyberspace war sie die Königin!
„Wie ich sehe, scheint das genau das zu sein, worauf sie gewartet haben.“, stelle Ito lächelnd fest.
„Oh, ähm, ja. Danke, Mr. Ito. Für das Vertrauen.“, antwortete Scarlett ertappt.
Sie spürte, wie sich ihre Wangen erwärmten. Ihr war nicht aufgefallen, wie sehr ihre innere Freude nach Außen gedrungen war, während ihr Vorgesetzter gesprochen hatte.
„Ich schicke Ihnen die Details auf ihren Account. Lesen Sie sich alles durch und bereiten Sie sich auf den Job vor. Morgen geht es los.“
„Danke, Mr. Ito. Das werde ich!“

Zurück in ihrem Büro musste Scarlett feststellen, dass sie nun nicht mehr allein war. Vanessa saß an ihrem Platz und hob gerade den Kopf, als Dean hinter der Chinesin ebenfalls das Büro betrat, zwei dampfende Kaffeetassen in den Händen.
„Morgen Xia.“, kam es knapp von ihrer Kollegin, die sogleich wieder in etwas auf ihrem Bildschirm vertieft war.
„Guten Morgen ihr Zwei.“, grüßte Scarlett in die Runde und wurde ebenfalls von Dean begrüßt.
Allerdings endete hier auch schon die Konversation. Sie hatte kein Talent für Smalltalk und außerdem war die Frau heiß darauf, die Infos über ihr neues Team und den ersten richtigen Job zu lesen. Daher vertiefte sie sich sofort in die Daten, welche Mr. Ito ihr zur Verfügung gestellt hatte. Kurze Zeit später entbrannte zwischen Dean und Vanessa ein Gespräch, welches in Scarletts Kopf jedoch zu einem Hintergrundrauschen verkam.

Das Team, zu welchem sie von nun an gehören würde, bestand fürs Erste aus drei Personen.
Entity war die Techexpertin. Sicherheit, Drohnen, Waffen, Cyberware, Gadgets – wenn es etwas zu tüfteln gab, war Entity die Frau für den Job!
Der Mann für‘s Grobe hörte auf den Namen Tracker. Er war der Waffenspezialist des Teams und würde die Koordination übernehmen.
Zuletzt war Scarlett natürlich selbst Teil des Trios. Ihr Aufgabenfeld umfasste alles, was mit dem Netz zu tun hatte.
Allerdings bestand auch die Option das Team zu erweitern, sollte nach Ansicht des Konzerns Bedarf bestehen.
Scarlett unterdrückte ein Seufzen. Wieder traten zwei neue Menschen in ihr Leben, mit denen sie sich einmal mehr arrangieren musste. So langsam hatte sie wirklich genug davon. Zum Glück musste sie nicht überall physisch antanzen, um ihren Job im Netz erledigen zu können.
Allerdings galt das nicht für den Kundenauftrag, den sie und ihre beiden noch unbekannten Mitstreiter zu erledigen hatten. Eine nicht näher genannte Person hatte Arasaka damit beauftragt, die Sicherheit innerhalb seines Privatbesitzes zu überprüfen und auf den neusten Stand zu bringen. Das galt für die physische Sicherheit inklusive Drohnen und Überwachung, sowie für die virtuelle innerhalb des Grundstücknetzwerks. Da dieses nicht direkt an das allgemeine Netz angeschlossen war, wurde Scarlett vor Ort benötigt, um ihren Job zu machen.
Es folgten noch weitere Details zur Startzeit, Treffpunkt, Dauer des Jobs, einsetzbaren Ressourcen, etc. Allerdings überflog Scarlett den Teil vorerst. Sie hatte noch genug Zeit, um sich sorgfältig vorzubereiten. Nun galt es erst einmal, ein neues Icon zu erstellen. Und sie wusste auch schon ganz genau, was es werden sollte.
 
Ich danke dir, @red_coshy! :) Ich habe echt viel Spaß dabei, die Geschichte zu schreiben und das positive Feedback motiviert auch noch zusätzlich.
Ein netter Nebeneffekt ist, dass ich so auch die Welt von Cyberpunk besser kennen lerne, weil ich mich mit ihr beschäftigen muss, um eine glaubhafte Geschichte in der Welt zu schreiben. Wenn dann das Spiel erscheint, sind mir die Hintergründe etwas vertrauter. Oder falls ich meine Pen&Paper Runde davon überzeugen kann, mal eine Runde Cyberpunk zu zocken. :D
 
Keine Sorge, ich höre so schnell nicht auf. Ich habe schon einen groben Plan, in welche Richtung mein Plot gehen soll. Und selbst, wenn ich irgendwann dort angekommen bin, gibt es bestimmt noch viele weitere Geschichten, die sich in Night City erzählen lassen. :)
 
Kapitel 4

Die Nacht war kurz gewesen. Scarlett hatte noch lange gearbeitet, ehe sie erschöpft in ihr Bett gefallen war. Nun saß sie in der U-Bahn Richtung Corporate Plaza, das neue Cyberdeck sicher in ihrem Rucksack verpackt und auf ihrem Schoß platziert. Selbst hier, in einem der besseren Ecken von Night City, waren die Wagons nicht frei von Graffiti. Das Meiste davon waren unleserliche Tags in allen erdenklichen Farben an der Rückseite der Sitzplätze.
Ein Grund, weshalb Scarlett die halbe Nacht durchgearbeitet hatte, war, dass sie bisher zwar in so einige Systeme eingedrungen war, selbst allerdings noch nie ein Sicherheitsnetz aufgebaut hatte. Natürlich wusste sie, was eine gute Sicherheit ausmachte. Um diese durchdringen zu können, musste sie die Gegenseite kennen. Dennoch war es eine besondere Herausforderung, ein bestehendes System zu sichern und im Ernstfall aktiv zu verteidigen.
Deshalb hatte Scarlett den vergangenen Tag fast ausschließlich damit verbracht, eine Demosystem zu erstellen und selbst anzugreifen. Natürlich alles im Rahmen einer Simulation. Ihr Hirn wollte sich die Netrunnerin nicht selbst grillen, weil sie gegen ihr eigenes Black ICE versagte.
Das hatte zwar seinen Tribut gefordert, allerdings war sich Scarlett nun sicher, ein Data Fortress erschaffen zu können, das seinen Namen verdiente. Der Kunde hatte wohl auch ordentlich gezahlt, denn der Chinesin standen alle Ressourcen zur Verfügung, die sie für ihre Arbeit benötigte. Es hatte seine Vorteile, für einen Konzern wie Arasaka zu arbeiten!

Der Arasaka Tower war jedes Mal wieder beeindruckend! Vor diesem Monstrum aus zwei Türmen fühlte sich Scarlett jedes Mal winzig. So mussten sich Insekten fühlen, wenn sie einem Menschen begegneten. Im Eingangsbereich tummelten sich selbst um diese Zeit schon so einige Menschen. Der Zutritt war hier jedem gestattet, egal ob Mitarbeitern, Kunden oder Schaulustigen, die sich an den diversen Videowänden von Konzernpropaganda berieseln lassen wollten, während sie das technische Monstrum bewunderten. Vielleicht flüchteten sie sich auch nur vor der Hitze, die trotz tiefstehender Sonne schon deutlich spürbar war. Scarlett hatte oft das Gefühl, dass diese nie wirklich aus den Häuserschluchten von Night City wich.
„Guten Morgen Ms. Lin“, grüßte der schwarzgekleidete Gardist, als Scarlett ihre Zutrittskarte scannen ließ, um den gesperrten Bereich zu betreten.
Es piepte bestätigend.
„Morgen Jarred.“
Sie hatte ihm ebenfalls ihren Vornamen angeboten. Doch pflichtbewusst, wie der Mann war, benutzte er weiterhin stoisch ihren Nachnamen.
Ihr war es gleich. Ein weiterer Mensch, der zwar regelmäßig, aber nur flüchtig ihr Leben streifte.

Heute führte Scarletts Weg jedoch nicht zu ihrem Büro, sondern zum Außendienst, wie die operative Abteilung völlig neutral genannt wurde. Ihr Zugang hatte laut Mr. Ito die benötigte Berechtigung erhalten, um nicht aufgehalten zu werden. So lernte die junge Frau weitere sterile Korridore kennen, die nicht anders aussahen als die, welche sie von ihrem Arbeitsplatz kannte. Allerdings begegnete sie anderen Menschen, die sie entweder mit einer Mischung aus Neugierde und Verwunderung ansahen, oder sie völlig ignorierten. Scarlett war es gleich. Dennoch war sie ein wenig aufgeregt. Wegen der neuartigen Aufgabe, der sie sich bald stellen musste, aber auch weil sie gleich auf zwei völlig neue Menschen stoßen würde, die sie nicht einschätzen konnte.
Kurze Zeit später stand Scarlett mit drei weiteren Arasaka-Angestellten in einem Aufzug, der leise surrend nach oben fuhr. Hier war sie mit ihrer legeren Kleidung in Schwarz und Weiß plötzlich die Exzentrikerin, da sie als Einzige keine Businesskleidung trug. Allerdings musste der Netrunner im Anzug erst noch geboren werden!
Scarlett schmunzelte. Ihre Fantasie zauberte ihr augenblicklich das Bild eines eingestöpselten Netrunners in schicken Klamotten vor ihr inneres Auge. Sie musste sogar ein Lachen unterdrücken. Die Vorstellung war für die Chinesin absurd lustig.
Der Fahrstuhl stoppte, die Türen öffneten sich und nach einem kurzen Blick auf die Anzeige trat Scarlett auf den Flur. Hier war sie richtig. Nach einem weiteren Sicherheitscheck war sie dann auch auf dem richtigen Weg und kurz darauf stand sie vor ihrem Ziel. „EINSATZBESPRECHUNG 3“ Dies war der Treffpunkt mit ihrem neuen Team.

„Ah, die Neue!“
Scarlett war gerade durch die Tür getreten. Dahinter befand sich ein Raum mit großer Videowand an einem Ende. Ein Tisch, ebenfalls fähig digitale Inhalte darzustellen, mit acht Stühlen drumherum, stand einsam herum. Weder die Videowand, noch der Medientisch waren eingeschaltet. Dafür standen zwei Männer davor.
Der, welcher den Neuankömmling so liebevoll begrüßt hatte, war Tracker. Scarlett erkannte ihn anhand des Fotos, welches sie in der Teambeschreibung gesehen hatte. Er trug schwarze Einsatzkleidung, militärisch, mit klar erkennbaren Arasaka-Logos auf der Weste und den Oberarmen. Seine Füße steckten in festen, ebenfalls schwarzen Stiefeln. Cyberware erkannte Scarlett auf den ersten Blick nicht. Allerdings bezweifelte sie nicht, dass der Kerl so einige Einbauten mit sich herumtrug. Selbst ohne seinen Bürstenhaarschnitt war der Mann der Inbegriff des Soldatenklischees.
Den anderen Mann kannte Scarlett nicht. Vermutlich war er ihr Vorgesetzter für den Job. Immerhin war ihr aktueller Infostand noch immer, dass das Team aus einem Trio bestand.
„Ja, hey.“, begann die Chinesin etwas unsicher. „Ich bin,“, wieder eine kurze Pause.
„Ich bin Xia. Oder Scarlett. Ich glaube, Scarlett ist draußen besser.“
„Scarlett, mhm. Ja, passt zu dir.“
Tracker musterte sie. Plötzlich fühlte sich Scarlett unwohl. Der Blick des Mannes war durchdringend und sie fühlte sich gar nicht wohl dabei.
„Sie kommen mit den besten Empfehlungen von Ito.“, sprach der andere Mann und brach Scarletts Anspannung.
„Ich bin Mac. Willkommen an Board, Scarlett.“
„Danke.“, entgegnete sie noch immer etwas eingeschüchtert.
Doch sie begann sich wieder zu entspannen. Mac machte immerhin einen offenen und freundlichen Ersteindruck. Anders als Tracker, der ihr gegenüber offensichtlich sehr skeptisch war.
„Wir warten noch auf Entity. Sie müsste eigentlich jed…“, begann Mac, als sich die Tür schwungvoll öffnete und eine schwarzhaarige Frau hindurch trat.
„Du bist spät.“, brummte Tracker.
„Nope. Ich bin zum genau richtigen Zeitpunkt da.“, entgegnete sie grinsend.
„Ist das unsere neue Netrunnerin? Ich hoffe, du warst nett zu ihr, Tracker!“
„Na klar, was denn sonst?“
„Also so charmant wie immer. Eines Tages vergraulst du noch unsere Verstärkung, bevor sie überhaupt da ist.“
Entity stieß ein kurzes Lachen aus, trat auf Scarlett zu und beugte sich zu ihr.
„Nimm ihn nicht so ernst. Er hat’s nicht so mit Menschen.“, sagte sie etwas leiser, aber noch immer laut genug, damit es alle hören konnten.
Sie grinste breit und zeigte ihre weißen Zähne. Dabei bemerkte die Chinesin, dass die leichte Bräune ihrer Gegenüber sehr natürlich wirkte.
„Da haben wir ja was gemeinsam.“, antwortete Scarlett und versuche ebenfalls ein Grinsen.
Es gelang ihr nur halb.
Entity trug ein schwarzes Tank Top, Cargohosen und ebenfalls feste Stiefel. Ihre Haare waren auf der rechten Seite bis zum Scheitel ausrasiert. Das Linke ihrer braunen Augen lag hinter einem leichten Haarschleier, was der Frau eine etwas mystische Aura gab. Im Gegensatz zu Tracker stellte Entity einen Teil ihrer Cyberware offen zur Schau. Ihr rechter Arm war eine komplette Cyberprothese, die mit einem schwarzen Material überzogen war.
Tracker grunzte.
„Werden wir noch sehen.“
Für seinen Kommentar erntete er einen scharfen Blick von Entity.
Nie hatte sich Scarlett so sehr wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Tracker machte keinen Hohn aus seinem Misstrauen. Entity wirkte zwar einladend, allerdings kam sich die Netrunnerin unter den beiden sportlichen, zielgerichteten Individuen wie eine Jugendliche vor, die gerade zum ersten Mal die Welt außerhalb des Netzes entdeckte. Sie stand vor der Herausforderung, sich in ein bestehendes Team zu integrieren. Scarlett konnte sich kein Hindernis im Cyberspace vorstellen, das ihr ähnliche Schwierigkeiten bereiten würde.
„Echte Menschen…“, murmelte sie leise vor sich hin.
Die Techspezialistin richtete ihren Blick fragend auf Scarlett.
„Wenn wir jetzt die Vorstellung und Nettigkeiten hinter uns haben,“, ergriff Mac wieder das Wort und unterband damit weitere Gespräche, „bringe ich euch nochmal auf den neusten Stand. Dann kann’s losgehen.“
 
Kapitel 5

Eine Stunde später verließ das Trio Arasaka-Tower in einem schwarzen Van mit weißer Arasaka Aufschrift Richtung Nordosten. Ihr Ziel war Westbrook, das Viertel der Reichen und Schönen in Night City. Wer dort lebte, machte sich um Geld keine Sorgen. Allerdings vermutete Scarlett, dass sie bei wirklich jedem, der dort wohnte, eine oder gleich mehrere Leichen ausgraben konnte, wenn sie nur lange genug danach suchen würde. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb jemand Arasaka engagiert hatte, um seine Behausung gegen mögliche Eindringlinge abzusichern.
„Warst Du schon mal in North Oak, Scarlett?“, fragte Entity vom Beifahrersitz aus.
„Im Netz ja, aber sonst nicht.“, antwortete sie.
„Der Ecken ist DER SHIT!“
Nun drehte sich die schwarzhaarige Frau nach hinten, sodass sie ihre Gesprächspartnerin sehen konnte.
„Die Karren dort sind so scharf! Sowas siehst du sonst nirgendwo. Vielleicht noch im Corpo Plaza. Aber die Typen, die dort rum fahren, wohnen sowieso in North Oak.“
Scarlett konnte das Strahlen in Entitys Augen erkennen, während sie erzählte.
„Und nicht nur die Autos, auch die ganze Technik dort ist vom anderen Stern. Wenn die normalen Menschen in Night City was bekommen, was der neue heiße Scheiß ist, haben es die Bonzen aus North Oak schon wieder mit was Neuerem ersetzt.“
„Die wischen sich dort mit Geld den Arsch ab!“, fügte Tracker mit leicht gereizter Stimme hinzu.
Es war offensichtlich, dass er die Gegend sowie die Menschen, welche dort lebten, nicht sonderlich gut leiden konnte. Falls er überhaupt jemanden leiden konnte. Da war sich Scarlett noch nicht ganz sicher.
„Als Netrunner ist es auch gefährlich, sich unbefugt in Westbrook aufzuhalten. Da begegnet man an jeder Ecke der Netwatch.“, erzählte die junge Chinesin von ihren Erlebnissen. „Einer KI bin ich auch mal begegnet.„
„Und, haben sie dich mal erwischt?“
Entity klang ehrlich interessiert. Ob es wirklich so war oder nicht, war Scarlett egal. Immerhin versuchte die andere Frau sie aktiv in das Team zu integrieren und dafür war sie ihr dankbar.
„Nein, sonst wäre ich wahrscheinlich nicht hier.“
„Vielleicht hat dich Arasaka ja aus dem Knast geholt?“
„Hm. Watson war vermutlich ähnlich angenehm wie der Knast. Aber nein, ich wurde…“, Scarlett stockte kurz. „anders rekrutiert.“
„Lass mich raten. Es hat was mit einer Knarre in deinem Gesicht zu tun?“, fragte Entity grinsend.
„Ähm, ja. Woher…“
„Weil es bei mir nicht anders war.“, wurde Scarlett gleich unterbrochen. „Ich hab’ ne Bonzenkarre geknackt und dachte, die gehört jetzt mir. Blöd war dann nur, dass einen Tag später drei bewaffnete Typen im Anzug vor meiner Tür standen. Die wollten die Karre wieder haben und mich abservieren. Ich hab mir fast in die Hosen geschissen!“
Entity lachte.
„Aber einer wusste irgendwoher, was ich so drauf hab und dass ich schon einige heikle Jobs durchgezogen hab’. Also gab er mir die Wahl: Kugel im Kopf oder für Arasaka arbeiten. War keine schwere Entscheidung.“
„Ja, so ähnlich war’s bei mir auch.“, sagte Scarlett.
„Manche muss man eben zu ihren Glück zwingen.“, warf Tracker ein, der den Van steuerte.
„Na klar, Herr Konsoldat. Wir waren verblendet und wurden auf den Pfad der Tugend geführt.“, antwortete Entity spöttisch und zog eine Grimasse.
„Tracker hier arbeitet schon so lange für Arasaka, der hat wahrscheinlich noch den vierten Konkrieg miterlebt.“, stichelte sie weiter.
„Das war vor 55 Jahren. Ich bin froh, dass ich den Scheiß mit der Atombombe nicht miterleben musste.“, brummte der Soldat.
„Atombombe?“, fragte Scarlett überrascht.
„Ja, die Vollidioten von Militech haben eine kleine taktische Atombombe im Arasaka Tower gezündet. Hat die halbe Stadt platt gemacht.“, erklärte Tracker.
Die Netrunnerin war sichtlich geschockt. Davon hatte sie tatsächlich noch nicht gehört.
„Du bist nicht von hier, was?“
„Nein. Ich habe die letzten 20 Jahre in Dublin gelebt. In Night City lebe ich erst seit gut sechs Monaten.“
„Dann kennst du das ja vielleicht. Die Iren haben auch ewig um ihre Unabhängigkeit gekämpft. Mit Night City ist das ähnlich. Die NUSA will uns auch zurück. Standen zuletzt 69 vor der Stadt. Mann, haben die sich in die Hosen gepisst, als uns Arasaka einen Supercarrier zur Verstärkung geschickt hat.“
Tracker lachte laut. Die Erinnerung daran schien ihm offenbar Freude zu bereiten.
„Siehst du, selbst Herr Supersoldat kann lachen. Du musst ihn nur über ein Thema quatschen lassen, auf das ER Bock hat.“, frotzelte Entity erneut.
Tracker hörte auf zu lachen und warf ihr einen kurzen, strengen Blick zu. Dann fing er erneut an zu lachen und Entity stimmte mit ein. Und selbst Scarlett ließ sich von der unerwarteten Heiterkeit anstecken.

Die Technikerin hatte wirklich nicht übertrieben. North Oak war eine völlig neue Welt für Scarlett. Alles war hier Top Notch – Autos, Villen, Sicherheit und sogar die Menschen, welche sie aus dem Van heraus beobachtet hatte, sahen perfekt aus. Biosculpting vom aller Feinsten! Die High Society überließ eben nichts dem Zufall. Schon gar nicht ihr Äußeres.
„Holt euer Equipment. Es sollte eigentlich niemand zuhause sein. Wer auch immer hier wohnt, will seinen Wohnort mit so wenigen Menschen wie möglich teilen. Das bedeutet aber auch, dass uns niemand bei der Arbeit auf den Sack geht. Hat also auch seinen Vorteil.“, erklärte Tracker, während er die Hecktüren des Vans öffnete. Dahinter befanden sich diverse Ausrüstungsgegenstände. Von Nah- und Fernkampfwaffen, über Körperpanzerung, bis hin zu Minidrohnen, Kabel und Werkzeugen aller Art war alles dabei.
„Ich wusste gar nicht, dass wir in den Krieg ziehen.“, bemerkte Scarlett.
„Tja, wir sind gerne vorbereitet. Du glaubst nicht, was man so alles auf einem vermeintlich ruhigen Einsatz erlebt.“, antwortete Entity.
„Außerdem rüstet uns Arasaka mit allem aus, was wir brauchen. Wir müssen nicht sparsam sein.“, fügte Tracker pragmatisch hinzu.
„Ich brauche nur das hier.“ Scarlett tätschelte sanft das Cyberdeck, welches noch immer in ihrem Rucksack steckte.
Nachdem sie durch die Riemen geschlüpft war, prangte auf ihrem Rücken das weiße Arasaka Logo. So war auch sie als Mitarbeiterin des Konzerns zu erkennen.
„Nimm die hier mit.“
Entity hielt der Netrunnerin eine Pistole am Lauf entgegen.
„Hier sollte eigentlich nichts passieren. Aber…“
„...besser haben und nicht brauchen als umgekehrt.“, vollendete Scarlett den Satz lächelnd.
„Richtig. Ich sehe schon, wir werden uns gut verstehen.“
Sie erwiderte das Lächeln kurz und wandte sich dann wieder ihrer Ausrüstung zu, die noch im Wagen stand, während die Chinesin ihre Pistole verstaute.

Wenige Minuten später stand das Trio im Empfangsbereich des Anwesens. Verschiedene Pflanzen standen in hohen Töpfen links und rechts des Eingangs, die mit ihrem Grün auf subtile Art und Weise den Weg über den spiegelnden Marmor vorgaben.
„Die sind echt!“, befand Entity nach einem näheren Blick.
Die hintere Wand des Raumes schien eine komplette Videowand zu sein, die verschiedene Idyllen im Wechsel zeigte. Delphine, die gemeinsam im blauen Meer schwammen, eine weite, grüne Ebene mit einem Wald am Horizont, die weiß verschneiten Gipfel eines Gebirges. Scarlett fragte sich, ob es solche Szenerien wirklich noch auf der Welt gab, oder ob sie aus längst vergangenen Tagen stammten. Selbst Irland war lange nicht mehr so grün, wie es einst mal gewesen sein soll.
Rechts führte eine Treppe leicht gewunden nach oben und endete in einem kleinen Balkon, der auf zwei Säulen stand. Die Schritte der Drei hallten an den weißen Wänden wider.
„Nicht schlecht. Echt edel. Hier könnte ich es auch aushalten.“
„Wir haben Arbeit vor uns. Entity, verschaff’ dir Zugang zur physischen Sicherheit. Scarlett, du klinkst dich ins lokale Netzwerk ein. Ich schaue mir das Gebäude und das umliegende Gelände an und suche nach Schwachstellen.“
„Wird gemacht.“, antwortete Entity und auch Scarlett nickte bestätigend.
„Dann los.“
Tracker schritt zielstrebig voran. Auch Entity schien zu wissen, welchen Weg sie zu wählen hatte. Also stand Scarlett einen Augenblick später alleine im Eingangsbereich der Villa.
Mit Sicherheit gab es hier einen Zugang zum Netz. Allerdings hatte sie nicht vor, diesen für ihre Arbeit zu benutzen. Wieso sollte sie sich mit einem Stuhl zufrieden geben, wenn sie bequem auf einem Bett liegen konnte?
„Also, wo geht’s hier zum Schlafzimmer?“, sprach sie leise zu sich selbst.

Nachdem sich die Chinesin einen Lageplan aus dem hauseigenen Netz heruntergeladen hatte, war sie schnell fündig geworden. Im Schlafzimmer stand ein riesiges Doppelbett, welches wohl eher Platz für drei oder vier Personen bot. Auf beiden Seiten des ausladenden Schlafplatzes standen kleine Nachtkommoden, auf denen moderne Tischleuchten platziert waren. Hier fanden sich auch jeweils zwei Anschlüsse, um sich in das lokale Netzwerk einzuklinken.
„Also doch vier Personen in einem Bett? Ich will nicht wissen, was hier so alles abläuft.“, dachte Scarlett.
In die Wand am Fußende des Bettes war eine große TV Einheit eingelassen, die jedoch ausgeschaltet war. Ein großer, begehbarer Kleiderschrank war ebenfalls an das Schlafzimmer angeschlossen. Der Sensor registrierte Scarlett, als diese sich dem Bett näherte und öffnete leise zischend die automatische Schiebetür. Dahinter war ein wahrer Wust aus Kleidung und Schuhen aller Art zu finden. Der überwältigende Teil davon war für Damen gedacht. Einen kurzen Moment lang verspürte sie den Drang, etwas davon anzuprobieren. Wann hatte sie denn jemals wieder die Gelegenheit, solch teure Sachen zu tragen? Doch sie schob den Gedanken von sich. Vielleicht nach der Arbeit.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes erlaubte ein großes Fenster den Blick auf den hinteren Teil des Anwesens. Tracker schritt gerade über die Wiese und sah sich aufmerksam um. Er schien Scarlett jedoch nicht wahrzunehmen.
Nachdem sie ihren Rucksack abgestellt hatte, legte sie sich auf das überaus bequeme Bett, welches mit Sicherheit die Härte der Matratze automatisch an die Belastung anpasste. Ihr entwich ein entspanntes Seufzen. Sie konnte sich daran gewöhnen, auf diese Art und Weise zu arbeiten.
Nach einigen Augenblicken der Entspannung kramte Scarlett ihr Deck und passende Kabel aus ihrem Rucksack hervor. Mit wenigen geschickten Handgriffen verband sie ihr Deck mit dem Hausnetzwerk.
„Auf geht’s.“, sagte sie leise und verband das Kabel ihres Decks mit der Buchse in ihrer Schläfe.
 
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